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Der Engelspapst

Der Engelspapst

Titel: Der Engelspapst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorg Kastner
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Staates eher spärlich. Die meisten Fenster waren dunkel. «Beten und arbeiten» hieß hier die Devise, und es wurde früh zu Bett gegangen.
    Das weltliche Rom mit seinem Gewirr aus Geschäftshäusern und Wohnblocks starrte mit Hunderten erleuchteter Fenster über die hohe Umfassungsmauer, die den Vatikan von der nahen und doch so fernen Außenwelt abschirmte. Hier galten andere Regeln. Auch der Lauf der Zeit schien im Vatikan verändert.

    Das Leben wurde immer noch von Gesetzen und Traditionen aus längst vergangenen Tagen bestimmt, im äußeren Erscheinungsbild genauso wie in den geheimen Motiven der Menschen. Hier einen Wandel herbeizuführen, die Kernsätze kirchlicher Lehren gar umzudrehen, war eine Aufgabe, die selbst Herkules mit Schrecken erfüllt hätte.
    Er hegte eine enorme Bewunderung für den Mann, der sich dieser Aufgabe gestellt hatte und dessen Lohn nun darin bestand, in einem Reich zwischen Leben und Tod dahinzudämmern. Mehr als einmal hatte er Gardien, nachdem er zum Papst gewählt worden war, gebeten, sich einen neuen, stärkeren Privatsekretär und Vertrauten zu suchen. Die Antwort war stets gleich ausgefallen: «Niemand kann stärker sein als derjenige, der seine tiefen Zweifel, seine Krankheit an Seele und Körper, überwunden und den wahren Glauben gefunden hat.»
    So groß sein Respekt für Jean-Pierre Gardien auch war, in dieser Angelegenheit bezweifelte Shafqat dessen Urteilskraft.
    Sicher hatte er seine Zweifel und seine Schwäche überwunden, aber er hatte sie nicht ausgelöscht. Tief in seinem Innern kauerte die an Körper und Seele nagende Bestie und wartete darauf, mit einem Panthersatz hervorzubrechen. In diesen Tagen der Prüfungen spürte er seine Schwäche, gegen die anzukämpfen an seinen Kräften zehrte. Noch wenige Stunden zuvor hätte er den Kampf um ein Haar verloren.
    Er hatte in seinem Bett gelegen und versucht, sich ein wenig auszuruhen. Aber der Schlaf, den er so dringend brauchte, wollte nicht kommen. Immer stärker wurde sein Verlangen. Sein Atem rasselte, die rechte, nicht durch einen Verband gestützte Hand zitterte in einem wilden Takt. Als er sich aus dem Bett schwang, gab es für ihn nur eine Erlösung aus der Qual, nur einen Weg, Kraft zu schöpfen.
    Mit einer Hand, die seinem Willen kaum noch gehorchte, öffnete er den kleinen Schrank mit der jungfräulichen Whiskeyflasche. Seit seiner Heilung hatte er keinen Tropfen mehr angerührt, so schwer es zuweilen auch gefallen war. Um seinen Widerstandswillen zu stärken, bewahrte er seitdem die Flasche mit irischem Whiskey auf. Jeden Morgen nahm er sie in die Hände, starrte sie an und sagte ihr – und sich selbst –, dass er sie nicht brauche.
    Aber jetzt, in diesen schweren Stunden, brauchte er sie!
    Es war doch nichts Verwerfliches, seinem entkräfteten Leib eine Stärkung zu gönnen. Hatten Mönche und Ärzte nicht schon im Mittelalter Branntwein als Medizin verkauft, als aqua vita –
    Lebenswasser? Und im siebzehnten Jahrhundert hatte man an der Sorbonne wissenschaftliche Untersuchungen über die gesundheitsfördernde Wirkung der Trunkenheit angestellt.
    Gerade einem Mann aus einem Land mit langer Whiskeytradition konnte ein kräftiger Schluck doch nicht schaden.
    Mit diesen Überlegungen lullte er seinen Verstand ein. Es war wie eine Vorwegnahme des erlösenden Rausches. Die schwere Flasche gab seiner Hand ein wenig Ruhe zurück. Andächtig strichen seine Finger über das glatte Glas. Fast hätte er die Flasche geküsst wie eine Reliquie. Was sie enthielt, war für ihn heilsamer als jede abgehackte Heiligenhand.
    Hastig machte er sich daran, den Verschluss aus dünnem Blech aufzuschrauben; dabei sagte er sich, dass er es schließlich nicht nur für sich tue. Nur wenn er stark war, konnte er Jean-Pierre Gardien weiterhin beistehen. Gardien, der ihn geheilt hatte von seinen Zweifeln, seinem Irrglauben, seiner Trunksucht.
    Ein klarer Gedanke schob sich schwach, aber hartnäckig durch den dichten Nebel von Beschönigungen: Der Griff zur Flasche war das Letzte, was Gardien gutheißen würde. Shafqat war im Begriff, Gardiens mühsam errungenen Erfolg zu zerstören. Und redete sich selbst auch noch ein, nur so könne er dem Freund helfen.

    Er wollte diese Klarsicht nicht und drehte umso schneller an dem widerspenstigen Verschluss, der im Lauf der Jahre regelrecht eingerostet zu sein schien. Vielleicht war es auch deshalb so schwierig, weil ihm nur eine Hand zur Verfügung stand.
    Ein stechender Schmerz in seinem

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