Der Engelspapst
Daumen ließ ihn innehalten. Er hatte sich an dem Blech geschnitten. Ein dicker Blutstropfen quoll aus der Wunde und lief, eine rote Spur hinterlassend, über Hand und Unterarm. Der Anblick erinnerte ihn an das Attentat. An all das Blut, das von einer Sekunde zur anderen überall gewesen war. An den Papst, der nur noch ein regloser blutüberströmter Körper war. An den Verrat, der innerhalb der Vatikanmauern verübt wurde. An den Verrat, den er selbst in diesem Augenblick beging.
Angewidert ließ er die Flasche los, und sie zerplatzte auf dem Parkett. Glassplitter und Whiskey spritzten nach allen Seiten.
Der starke Geruch des Alkohols breitete sich im Zimmer aus und weckte Erinnerungen an selige, alle Schmerzen auslöschende Räusche. Er fiel auf die Knie und war kurz davor, die erlösende Flüssigkeit ungeachtet der Splitter vom Boden aufzulecken. Doch dann dachte er an Gardien und widerstand der Versuchung. Taumelnd erhob er sich und wankte ins Badezimmer, wo er den Kopf unter einen kalten Wasserstrahl hielt.
So wie in jener schwachen Stunde das Wasser half ihm jetzt der Nachtwind, einen klaren Kopf und einen festen Willen zu bewahren. Kurz nach seinem Ringen mit sich selbst hatte Orlandi angerufen und ihn über den Plan zu Gardiens Rettung informiert. Wäre Shafqat betrunken gewesen, wäre er für die Rolle, die Orlandi und Donati ihm zugedacht hatten, nicht in Betracht gekommen.
Er verließ die Piazza del Forno und umrundete auf der Via delle Fondamenta den Petersdom, der geheimnisvoller und erhabener wirkte als bei Tag, wenn Tausende lärmender und fotografierender Touristen jede Andacht zerstörten. Hoch über der Hauptapsis ragte die mächtige Halbkugel der von Michelangelo entworfenen Peterskuppel empor und reckte das goldene Kreuz, das ihre Spitze zierte, wie zur Abwehr böser Mächte den dunklen Wolken entgegen. Schafqat konnte in dem Anblick nichts Beruhigendes finden; zu viele Schandtaten waren im Zeichen des Kreuzes begangen worden.
Er hörte Stimmen und erstarrte. Zwei Schatten lösten sich aus dem Durchgang zwischen Stephanskirche und Tribunalspalast.
Schnell sprang er hinter eine der Zypressen, die sich um die Apsis erhoben. Er hoffte, dass seine schwarze Soutane und der Baum ihn davor bewahrten, entdeckt zu werden. Zwar war ein nächtlicher Spaziergang in den Gärten dem Privatsekretär Seiner Heiligkeit nicht verboten, aber er wollte seine Mission nicht gefährden, indem er Neugier erregte.
Dass er richtig gehandelt hatte, erkannte er, als er die Vigilanza-Uniformen der beiden langsam dahinschlendernden Männer sah. Bemerkten sie ihn, würden sie vielleicht Meldung machen. Und zwar ihrem Generalinspektor, Riccardo Parada.
Und seit gestern wusste Shafqat durch Orlandi, dass der Sicherheitschef des Vatikans zu ihren Gegnern zählte.
Vigilanza und Schweizergarde hatten das Attentat zum Anlass genommen, ihre Wachen zu verstärken. Offiziell, um weitere Anschläge zu verhindern. Nur wenige Männer aus den vatikanischen Sicherheitskräften wussten wohl, dass sie in Wahrheit für die Hintermänner des Attentats arbeiteten.
Die Gendarmen kamen dicht an Shafqat vorbei, sie gingen seinen Weg in umgekehrter Richtung. Mit angehaltenem Atem wartete er, bis sie außer Hörweite waren. Er dankte dem Herrn, dass die beiden mehr an ihrer Unterhaltung interessiert waren als daran, die Augen offen zu halten. Sie rechneten wohl nicht wirklich mit einem nächtlichen Eindringling.
Vorsichtig, sich immer wieder nach allen Seiten umblickend, ging er zu der Baustelle an der Tiefgarage und stieg die Fußgängertreppe hinunter. In regelmäßigen Abständen brannten Lampen in der Garagendecke. Weitere Leuchten hingen an den Absperrungen der Bauzonen. Aber wo in dem Gewirr aus Baumaschinen, geparkten Autos und Betonpfeilern lag der Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth?
Orlandi hatte ihm in aller Kürze mitgeteilt, dass der Einstieg vermutlich in der Garage zu finden sei. Auf dieses Gebiet waren im Zweiten Weltkrieg die ominösen Bomben gefallen. Wenn Orlandi Recht hatte, musste Shafqat nach einer versteckten Stelle suchen.
Im hinteren Teil der Garage, abgetrennt durch eine Ziegelmauer, führte eine Wendeltreppe noch ein Stück tiefer.
Ein großes Schild hing über dem Treppengeländer: WARTUNGS- UND DEPOTRÄUME
ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE
Shafqat hielt sich in diesem Fall zu allem befugt und stieg die metallenen Treppenstufen hinab. Falls er den Eingang fand, sollte er versuchen, ihn zu öffnen. Orlandi hatte
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