Der Engelspapst
hat Ihnen bereits gesagt, dass Leonardo im Vatikan weilte, um in den Geheimarchiven zu forschen. Das war im Jahr 1492. Drei Jahre später begann er im Refektorium des Mailänder Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie mit den Arbeiten am Abendmahl. »
«Das hört sich an, als gäbe es da einen verborgenen Zusammenhang.»
«So verborgen ist er gar nicht. Sehen Sie sich das Gemälde in Ruhe an, dann werden Sie erkennen, was Leonardo in Rom herausgefunden hat.»
Der Papst reichte Alexander das Buch. Ihre Hände berührten sich kurz, und Alexander spürte ein warmes, angenehmes Kribbeln. Seine Augen suchten die Reproduktion des berühmten Gemäldes nach etwas Auffälligem ab. Vergeblich.
Der Papst tippte mit dem Zeigefinger auf die zweitäußerste Figur auf der linken Seite. «Wissen Sie, wer das ist?»
«Nein», sagte Alexander, der zwar die Namen der zwölf Apostel kannte, sie dem Gemälde aber nicht alle zuordnen konnte.
«Allgemein wird behauptet, dies sei der jüngere Jakobus», erklärte Custos. «Betrachten Sie einmal erst ihn und dann die anderen Gestalten auf dem Bild!»
Leichte Erregung schwang in der Stimme des Heiligen Vaters mit. Er schien gespannt darauf zu warten, dass Alexander hinter das Geheimnis kam.
Der Schweizer musste das Bild nur bis zur Mitte ansehen, dann rief er: «Jakobus und Jesus sehen sich erstaunlich ähnlich, fast wie …»
«Wie Zwillingsbrüder, sprechen Sie es ruhig aus.» Der Papst nickte zufrieden. «Leonardo hat die Ähnlichkeit bis hin zu der roten Kleidung betont; das Einzige, was die beiden unterscheidet, ist der Mantel, den Jesus um die Schulter geschlungen hat. Sie haben es erkannt, Alexander. Diese Ähnlichkeit Christi mit einem seiner Jünger ist der Schlüssel zur geheimen Botschaft des Bildes. Und sie ist der Grund, weshalb es immer wieder Bestrebungen der Mächtigen gegeben hat, das Gemälde zu zerstören oder es sich anzueignen. Schon der französische König Ludwig XII. war, als er im Jahr 1499
Mailand eroberte, nur mit Mühe davon abzuhalten, das Bild nach Frankreich zu bringen. So ging es all die Jahrhunderte hindurch. Sie wissen, dass im Zweiten Weltkrieg Bomben auf den Vatikan gefallen sind. Nun, auch das Kloster Santa Maria delle Grazie wurde angegriffen, eine Bombe traf das Refektorium. Das Dach und die ganze Wand rechts neben Leonardos Gemälde wurden zerstört. Das Abendmahl blieb nur deshalb weitgehend erhalten, weil es durch Sandsäcke geschützt war. Vor acht Jahren konnte in letzter Minute ein Mafia-Bombenanschlag auf das Refektorium verhindert werden. Auf der Suche nach den Auftraggebern führten Spuren in den Vatikan, wo sie sich, wie üblich, in Luft auflösten.»
«Vor acht Jahren?», fragte Alexander. «Damals verlor Commissario Donati seine Familie bei einem Bombenanschlag in Mailand.»
«Er war der Mafia auf der Spur, wenn auch nicht wegen des Gemäldes. Aber durch seinen Einsatz sind die Pläne zur Vernichtung des Refektoriums aufgeflogen. Wir haben uns nach dem furchtbaren Anschlag um ihn gekümmert. Das war das Mindeste, was wir tun konnten.»
Jetzt begriff Alexander, warum Donati so leidenschaftlich gegen die Verschwörer im Vatikan vorging. Die Auserwählten hatten vermutlich nicht ganz selbstlos gehandelt, als sie dem Commissario im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine halfen. Einen engagierteren Verbündeten in den Reihen der Polizei hätten sie sich nicht wünschen können.
Aber eins verstand Alexander noch immer nicht: «Wenn Leonardo da Vinci etwas mitzuteilen hatte, warum hat er es nicht einfach aufgeschrieben?»
«Hätte er das, was uns sein Gemälde sagt, offen behauptet, wäre er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet. Außerdem waren damals längst nicht so viele Menschen des Lesens mächtig. Ein Bild konnte jeder verstehen, der sich darauf einließ.»
Die Betonung des letzten Satzes machte Alexander klar, dass dies eine Aufforderung an ihn war. Die Worte des Papstes spukten in seinem Hirn umher: Wie Zwillingsbrüder … Diese Ähnlichkeit Christi mit einem seiner Jünger ist der Schlüssel zur geheimen Botschaft des Bildes.
«Jesus hatte Schwestern und Brüder», überlegte er schließlich laut. «Jedenfalls steht das im Matthäus-Evangelium.
Konservative Theologen deuten die Stelle anders, um die These von Marias ewiger Jungfräulichkeit aufrechtzuerhalten. Sie sprechen von ‹Vettern› statt von ‹Brüdern›. Oder sie behaupten, es handele sich um Kinder aus Josefs erster Ehe.»
Der Papst
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