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Der Engelspapst

Der Engelspapst

Titel: Der Engelspapst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorg Kastner
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genauso gut zwei Profile ein- und desselben Gesichts sein, so ähnlich waren sie einander.
    Langes Haar fiel bis über die Schultern. Ein vollbärtiges Gesicht, ausdrucksstark und makellos zugleich, als sei der Mann, dem es gehörte, von großer innerer Kraft und Ruhe erfüllt gewesen. Dann aber, als das eine Profil das andere verdrängte, zeigte sich ein neuer Zug. Das Gesicht schien unverändert, und doch wirkte es auf seltsame Weise hart und verschlossen, so als habe eine dunkle Macht von dem Mann Besitz ergriffen.
    «Seit dem Sacco di Roma gilt dieser Stein als verschollen», sagte der Papst. «Diese Schutzbehauptung sollte der heiligen römischen Kirche ein weiteres Desaster von der Art ersparen.
    Das hat nicht immer funktioniert, wie der Bombenangriff auf den Vatikan gezeigt hat. Aber damals, in der Renaissance, besaß die Behauptung eine gewisse Glaubwürdigkeit; es hieß, man habe den Smaragd Abbas de Naggera ausgeliefert, und der Tod des Spaniers ließ das Verschwinden des Steins als plausibel erscheinen. Der Stein, der ihm tatsächlich ausgehändigt wurde und der danach nie wieder aufgetaucht ist, war die Fälschung, von der Sie in den Aufzeichnungen Ihres Vorfahren gelesen haben. Sie zeigte nur ein Gesicht Jesu – durfte nur eins zeigen, weil die Kirche die Existenz des Zwillings aus guten Gründen verschweigt.»
    «Was ist so bedrohlich an ihm?»
    «Judas Thomas hat wie Jesus gegen das strenge Judentum der Pharisäer und die Geschäftemacherei in den Tempeln rebelliert.

    Die Zwillinge und ihre Anhänger wollten erreichen, dass die Gesetze den Menschen dienen und nicht die Menschen den Gesetzen. Insoweit stimmt die Schilderung des Neuen Testaments. Jesus stieg zum Führer der Bewegung auf, weil er über Kräfte verfügte, die anderen Menschen verwehrt bleiben.
    Heute würden wir von paranormalen Fähigkeiten sprechen, damals war schlicht von Wundern die Rede. Kein Wunder war es allerdings, dass Jesus und seine Jünger die Pharisäer und Tempelpriester gegen sich aufbrachten.»
    «Aber auch die Römer», warf Alexander ein.
    «Ganz recht. Die Unruhe, die durch den Konflikt im römisch besetzten Judäa entstand, hat dem römischen Statthalter Pontius Pilatus zu schaffen gemacht. Seine Hände waren nicht so rein, wie die Evangelisten uns glauben machen wollen, um die Priester und Pharisäer stärker zu belasten. Pilatus hatte ein vitales Interesse daran, die Akte Jesus oder Jeschua, wie die Zeitgenossen ihn nannten, schnell zu schließen. Also stellte er sich auf die Seite der Ankläger und verurteilte den Aufrührer Jeschua zum Tod. Und am Morgen des Rüsttages für das Passafest zogen römische Legionäre, das Volk aufhetzende Priester und die wenigen Anhänger Jeschuas, die es wagten, ihm in seiner schwersten Stunde nahe zu sein, mit dem blutig gepeitschten Verurteilten vom römischen Prätorium zur Schädelstätte, zum Hügel Golgatha.»
    Custos sprach mit solcher Eindringlichkeit, als sei er selbst dabei gewesen. Und etwas Seltsames geschah: Die Stimme des Papstes und das Leuchten des Smaragds zogen Alexander derart in die Erzählung hinein, dass er meinte, unmittelbar Zeuge der zweitausend Jahre zurückliegenden Ereignisse zu werden.
    Die Kopfhaut von Dornen zerkratzt, von den Schultern bis zu den Füßen voller Wunden und Blutergüsse, war Jeschua ben Joseph nackt zum Schädelberg gewankt. Nach der Auspeitschung war er kaum in der Lage, aufrecht zu gehen. Und es war gut, sich zu bücken, nicht in die Gesichter der Menschen zu sehen, die den Weg säumten.
    Nicht Spott und Neugier in vielen Gesichtern waren es, die Jeschua abschreckten. Er fürchtete den Anblick derer, die er liebte, allen voran seine Mutter Mirjam. Sein Körper, eine einzige blutige Wunde, würde sie mehr schmerzen als ihn. Ihn nackt zu sehen, allen Blicken ausgeliefert, würde ihr mehr Würde rauben als ihm, der bald von allen Schmerzen erlöst sein würde. Die Nacktheit war ein Teil der Strafe, die nicht nur den Leib, sondern auch den Geist treffen sollte. Je schneller die Stunde seines Todes kam, desto besser war es für ihn und alle, die ihn liebten.
    So war er fast erleichtert, als der Menschenzug die Kuppe Golgathas erreichte. Und der jähe Schmerz, als die Soldaten ihm Nägel durch die Handgelenke und Füße trieben, erschien ihm als willkommener Sendbote der nahen Erlösung. Er spürte die rauen Hände der Legionäre, als sie ihn mitsamt dem Querbalken, den sie Patibulum nannten, anhoben. Auf zwei schwere Holzgabeln gelegt,

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