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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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scharfkantige Splitter das nächste Mal von seinem Stiefel zu gleiten drohte, machte Simon einen Ruck zur Seite, und es gelang ihm, den Scherben mit dem Bein gegen Miriamels Unterschenkel zu drücken. Dann presste er sich gegen sie, sodass der Scherben nicht herunterfallen konnte, und stellte seinen Fuß wieder auf den Boden, damit er nicht das Gleichgewicht verlor.
    »Was nun?«
    Miriamel drängte sich an ihn und reckte sich langsam auf die Zehen. Dadurch glitt der Scherben ein Stück an Simons Bein hinauf. Mit erstaunlicher Leichtigkeit durchschnitt er den dicken Stoff von Simons Hosen. Simon blutete, stand aber, so still er konnte; von einem kleinen Schmerz würden sie sich nicht abschrecken lassen. Miriamels Klugheit beeindruckte ihn.
    Als sie sich so hoch gereckt hatte, wie sie konnte, änderte sie ihre Stellung so, dass das Kristallstück hauptsächlich auf Simon lag, und rutschte dann wieder nach unten. Jetzt war er an der Reihe. Es dauerte qualvoll lange, den Kristall auf diese Weise nach oben zu schieben. Der Scherben schien schärfer zu sein als gewöhnliches Spiegelglas. Als sie ihn endlich so weit bewegt hatten, dass Simon danach greifen konnte, waren die Beine der beiden Gefangenen voller blutiger Striemen.
    Simon streckte die Finger nach dem Kristall aus, konnte ihn aber immer noch nicht ganz erreichen. Plötzlich begannen sich seine Nackenhaare zu sträuben. Oben auf dem Gipfel hatten die Nornen ein Lied angestimmt.
    Die Melodie stieg auf wie eine Schlange, die sich aus ihren Windungen erhebt. Simon merkte, wie er in eine Art Traum hinüberzugleiten drohte. Die Stimmen waren kalt und schrecklich, zugleich aber von fremdartiger Schönheit. Er glaubte, das hohle Echo unermesslicher Höhlen zu vernehmen, das klingende Tropfen von langsam schmelzendem Eis. Zwar konnte er die Worte nicht verstehen, aber der uralte Zauber der Liedes war nicht zu überhören. Es riss ihn mit wie ein unterirdischer Strom, hinab, tief hinab ins Dunkel …
    Simon schüttelte den Kopf und versuchte die lähmende Schläfrigkeit zu vertreiben. Die gefangenen Verräter, die noch immer mit den Köpfen über den Felsenrand hingen, zappelten nicht mehr. Unter ihnen hatten die Nornen sich so aufgestellt, dass sie ein angedeutetes Dreieck um den Findling bildeten.
    Simon stemmte sich mit aller Kraft gegen den Strick, der ihn hielt. Er zuckte zusammen, als der Hanf in seine Handgelenke schnitt und sich wie glühendes Eisen in sein Fleisch brannte. Miriamel sah Tränenin seine Augen steigen. Sie lehnte sich an ihn und presste den Kopf an seine Schulter, als könnte sie damit den Schmerz fortzwingen. Simon keuchte und streckte die Finger aus, so weit es nur ging. Endlich berührten sie die kalte Schneide. Schon der leichte Druck ritzte ihm die Haut.
    Aber der dünne, helle, schmerzhafte Strich bedeutete auch, dass er es geschafft hatte. Simon seufzte erleichtert.
    Das Lied der Nornen endete. Maefwaru erhob sich aus seiner knienden Haltung und schritt auf den Stein zu. »Die Zeit ist da!«, rief er. »Wir wollen dem Meister unsere Treue beweisen! Der Augenblick ist gekommen, sein Drittes Haus zu rufen!«
    Er wandte sich zu den Nornen und sagte etwas. Seine Stimme war so leise, dass Simon nichts hören konnte, aber der junge Mann achtete ohnehin nur am Rande auf das, was am Stein vor sich ging. Trotz der Schmerzen und des Blutes hielt er den Kristallscherben fest in der Hand, drehte sich zur Seite und tastete nach Miriamels Fesseln. »Nicht bewegen«, zischte er.
    Man hatte Maefwaru ein langes Messer gereicht, das im flackernden Schein des Feuers wie ein Ding aus einem Albtraum glitzerte. Er trat vor den Felsen, streckte die Hand aus und packte Roelstan beim Haar. So roh zerrte er daran, dass er den Feuertänzern oben auf dem Felsen fast die Knöchel ihres Gefangenen aus den Händen riss. Roelstan hob beide Arme, als wollte er kämpfen, doch seine Bewegungen waren von grausiger Trägheit; es war, als ertrinke er tief unten im Meer. Maefwaru zog die Klinge quer über seinen Hals und machte einen Schritt zurück, ohne dem wild hervorsprudelnden Blut ganz entgehen zu können. Dunkle Spritzer befleckten sein Gesicht und das weiße Gewand.
    Roelstan schlug um sich. Simon wurde übel, aber er starrte wie gebannt auf das Blut, das nun in Strömen über den hellen Stein rann. Gullaighn, die kopfüber neben ihrem sterbenden Mann hing, begann zu kreischen. Dort, wo sich die rote Flüssigkeit am Fuß des Felsens in einer Lache sammelte, färbte sich der

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