Der Engelsturm
Bodennebel purpurrot, als sei das Blut selbst zu Dunst geworden.
»Simon!« Miriamel stieß ihn an. »Beeil dich!«
Er griff nach ihren Fingern und tastete sich daran hoch, bis er dieKnoten um ihre Gelenke fand. Er drückte den glatten Kristallsplitter gegen den rauhen Strick und fing an zu sägen.
Noch immer blickten sie auf das große Feuer und den blutigen Stein. Miriamels Augen glänzten im totenbleichen Gesicht. »Schnell, Simon, bitte!«
Simon ächzte. Es war schon schwer genug, mit der zerschnittenen, bluttriefenden Hand den Kristall überhaupt festzuhalten. Und das, was im Mittelpunkt des Gipfels geschah, versetzte ihn in immer größere Angst.
Der rote Nebel hatte sich ausgedehnt, bis er den großen Steinblock ganz umgab und teilweise verdeckte. Jetzt sangen die Feuertänzer, und ihre brüchigen Stimmen ahmten auf widerwärtige Weise den giftigsüßen Gesang der Nornen nach.
Etwas regte sich im Nebel, ein fahles, massiges Gebilde, das Simon zuerst wie der Stein selbst vorkam, der durch Zauber zum Leben erwacht war. Dann aber schritt es hervor aus der rötlichen Finsternis, auf vier gewaltigen Beinen, mit Hufen, unter denen die Erde zu beben schien. Es war ein riesenhafter, weißer Stier, größer als alle, die Simon bisher gesehen hatte, an den Schultern höher als ein Mann. Trotz seiner Masse wirkte er sonderbar durchscheinend, wie aus Nebel gemeißelt. Seine Augen glühten wie Kohlen, die knochenweißen Hörner ragten in den nächtlichen Himmel. Auf seinem Rücken saß wie ein Ritter zu Pferde eine hohe und breite Gestalt im schwarzen Gewand. Entsetzen ging von ihr aus wie Hitze von der Sommersonne. Simon fühlte, wie zuerst seine Finger, dann seine Hände taub wurden, sodass er nicht mehr wusste, ob er den kostbaren Scherben überhaupt noch festhielt. Sein einziger Gedanke war, vor der grausigen, leeren, schwarzen Kapuze zu fliehen. Er wollte sich gegen die Last seiner Fesseln werfen, bis sie zerrissen, an ihnen zerren, bis er frei war und davonlaufen konnte … laufen und laufen und laufen …
Der Gesang der Feuertänzer brach ab. Ausrufe von Ehrfurcht und Schrecken mischten sich in die Worte des Rituals. Maefwaru stand vor seiner Gemeinde und schwenkte, entsetzt und begeistert zugleich, die dicken Arme.
»Veng’a Sutekh!« , schrie er. »Herzog des Schwarzen Windes! Gekommen, das Dritte Haus unseres Meisters zu errichten!«
Der Riese auf dem Stier starrte auf ihn hinunter. Dann drehte sich die Kapuze langsam nach rechts und links und blickte über den Gipfel. Die unsichtbaren Augen streiften Simon wie ein eisiger Wind.
»O Gott! Usires am B-B-Baum!«, stöhnte Miriamel. »Was ist das?«
Seltsamerweise ließen diese Worte Simon wieder zur Besinnung kommen, als sei seine Furcht zu groß und damit unhaltbar geworden. Er hatte noch nie so viel Angst in Miriamels Stimme gehört, und ihr Grauen riss ihn vom Rand des Abgrunds zurück. Plötzlich merkte er, dass er das Kristallstück noch in den erstarrten Fingern hielt.
»Es ist ein böses … ein böses Wesen«, keuchte er. »Einer von den … Dienern des Sturmkönigs …« Er griff nach ihren Handgelenken und fing von neuem zu sägen an. »Halt still, Miri, halt still.«
Miriamel schluckte. »Ich versuche es ja.«
Die Nornen waren inzwischen zu Maefwaru getreten und sprachen mit ihm. Anscheinend war er der Einzige unter den Feuertänzern, der den Anblick des Stiers und seines Reiters ertragen konnte. Der Rest der Gemeinde duckte sich in das Gestrüpp des Unterholzes. Ihr Gesang hatte sich in ein halb verzücktes, halb ängstliches Schluchzen verwandelt.
Jetzt drehte Maefwaru sich um und zeigte auf den Baum, an dem Simon und Miriamel festgebunden waren.
»Sie k-kommen uns holen«, stotterte Simon. Im selben Augenblick durchtrennte der Scherben die letzten Fäden von Miriamels Strick. »Schnell, schneide meine Fesseln durch!«
Miriamel wandte sich zur Seite und versuchte, mit ihrem flatternden Mantel vor den Feuertänzern zu verbergen, was sie tat. Simon konnte fühlen, wie sie mit kräftigen Bewegungen die Schneide des Kristallsplitters über den dicken Hanf führte. Langsam kamen die Nornen über die Höhe auf sie zugeschritten.
»O Ädon! Sie kommen!«
»Ich bin fast durch«, flüsterte Miriamel. Etwas bohrte sich in sein Handgelenk. Miriamel fluchte. »Es ist hingefallen!«
Simon senkte den Kopf. Es hatte doch alles keinen Zweck gehabt. Neben ihm schlang Miriamel hastig ihre eigenen durchtrennten Fesseln wieder um die Handgelenke,
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