Der Engelsturm
einmal.«
Binabik musterte ihn aus klugen Augen. »Du hast mit Camarisgesprochen, meinem ritterlichen Freund. Deine Worte klingen seinen Regeln der Ritterschaft sehr ähnlich, obwohl das, was du sagst, von wahrer Simon-Bescheidenheit ist.« Er spähte in seinen Topf und rührte mit einem Stock den Inhalt um.
»Nur noch einige Zutaten, dann werde ich es ein Weilchen sich selbst überlassen.« Er warf ein paar Streifen Dörrfleisch hinein, hackte eine kleine, recht windschiefe Zwiebel in Stücke und fügte sie hinzu. Dann rührte er die Mischung noch einmal um.
Als er damit fertig war, griff der Troll nach seinem Ledersack, zog ihn zu sich heran und durchforstete ihn mit dem Ausdruck heftiger Konzentration. »Ich habe darin etwas, von dem ich glaube, es könne deine Teilnahme wecken …«, murmelte er gedankenverloren. Schließlich förderte er ein in Blätter gewickeltes, längliches Paket zutage. »Ah … hier ist es.«
Simon nahm es und erkannte es am Gefühl, noch ehe er es ausgepackt hatte. »Der Weiße Pfeil!«, flüsterte er. »Ach, Binabik! Danke! Ich war ganz sicher, ihn verloren zu haben.«
»Und das hattest du auch«, entgegnete der Troll trocken. »Doch da ich dir ohnehin einen Besuch abstatten wollte, schien mir, ich könnte ihn ebenso gut mitnehmen.«
Miriamel kam zurück. Begeistert hielt Simon ihr seinen Schatz entgegen. »Seht nur, Miriamel! Mein Weißer Pfeil! Binabik hat ihn mitgebracht.«
Sie schenkte dem Pfeil kaum einen Blick. »Das war sehr nett von ihm. Ich freue mich für dich, Simon.«
Sie ging zu ihren Satteltaschen und fing an, darin herumzusuchen. Simon sah ihr nach. Womit hatte er sie jetzt schon wieder verärgert? Das Mädchen war launischer als das Wetter. Und war er es nicht, der eigentlich ihr böse sein sollte?
Er schnaubte leise und wandte sich wieder an Binabik. »Erzählst du uns jetzt, wie du uns entdeckt hast?«
»Geduld!« Binabik winkte mit der rundlichen Hand. »Wir wollen zuerst unser Essen und ein wenig Frieden genießen. Prinzessin Miriamel ist noch nicht einmal zu uns herübergekommen. Auch gibt es noch andere Neuigkeiten, nicht alle davon ersprießlich.« Wieder beugte er sich über seinen Reisesack und wühlte. »Aha! Da sind sie.«Er holte ein neues Päckchen heraus, einen kleinen, verschnürten Beutel, und schüttete ihn über einem flachen Stein aus. Heraus rollten seine Wurfknöchel. »Während wir harren, will ich herausfinden, was mir die Knöchel verraten.« Die Knöchel stießen mit sanftem Klicken aneinander, als er sie vorsichtig aufsammelte und dann nacheinander wieder auf den Stein fallen ließ. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das Ergebnis.
»Der Pfad im Schatten.« Er grinste säuerlich. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn erblicke.« Wieder warf er. »Die schwarze Spalte.« Er wiegte bedenklich den Kopf. »Das hatten wir auch bereits.« Ein letztes Mal schüttelte er die Knöchel und kippte sie vor sich aus. »Chukkus Steine!«
Seine Stimme klang brüchig.
»Ist ›Chukkus Steine‹ ein schlechter Wurf?«, fragte Simon.
»Es ist ein Fluchwort«, erläuterte Binabik. »Ich habe es gesagt, weil ich dieses Muster noch nie gesehen habe.« Er neigte sich tiefer über das vergilbte Häufchen. »Es ist ein wenig wie ›Flügelloser Vogel‹. Aber doch nicht ganz.« Er nahm einen der Knöchel auf, der lose über zwei anderen gelegen hatte, und holte tief Luft. »Könnte es ›Tanzende Berge‹ sein?« Als er zu Simon aufsah, war ein Glanz in seinen Augen, der Simon gar nicht gefiel. »Nie habe ich so etwas erblickt, noch kenne ich jemanden, der es getan hätte. Doch ist mir, als hätte ich einmal davon reden hören … als mein Meister Ookequk mit einer weisen alten Frau vom Berg Chugik sprach.«
Simon zuckte ratlos die Achseln. »Aber was bedeutet es?«
»Veränderungen. Dinge, die anders werden. Große Dinge.«
Binabik seufzte. »Wenn es wirklich ›Tanzende Berge‹ ist. Hätte ich meine Schriftrollen hier, könnte ich es vielleicht genauer bestimmen.« Beunruhigt schob er die Knöchel zusammen und ließ sie wieder in den Beutel fallen. »Es ist ein Wurf, der sich nur ganz wenige Male gezeigt hat, seit die Singenden Männer von Yiqanuc überhaupt ihr Leben und Wissen auf Leder geschrieben haben.«
»Und was ist dann geschehen?«
Binabik steckte den Beutel weg. »Lass mich warten, bevor weitergesprochen wird, Simon. Ich muss mich besinnen.«
Simon hatte die Knochenorakel des Trolls bisher nie sonderlichernst genommen – sie
Weitere Kostenlose Bücher