Der Engelsturm
»Vielleicht wollen sie das A-Genay’asu dazu benutzen, die Stimme ihres Gebieters zu verstärken. Vielleicht wollen sie sich auch auf andere Weise seiner Kräfte bedienen. Sicher ist allenfalls, dass sie auf diesen Ort größten Wert legen. Sogar einer der Roten Hand befindet sich bei ihnen.«
»Der Roten Hand? Ein Diener des Sturmkönigs?«
»Einer seiner mächtigsten Diener, denn gleich ihm sind sie durch das Tor des Todes geschritten und in die Äußeren Reiche gelangt. Aber jeder Augenblick, den sie in unserer Welt zubringen, kostet Ineluki eine ungeheure Kraftanstrengung, denn sie sind ein fast ebenso großer Widerspruch zur Ordnung des Lebens wie er selbst. Darum wussten wir, als einer von ihnen uns in Jao é-Tinukai’i angriff, dass es an der Zeit war, zu den Waffen zu greifen. Ineluki und Utuk’ku müssen sich in einer verzweifelten Lage befunden haben, sonst hätten sie niemals derartige Kräfte entfesselt, um Amerasu zum Schweigen zu bringen.« Er hielt inne. Eolair saß schweigend da; die vielen fremden Namen verwirrten ihn. »Ich werde Euch das allesbei Gelegenheit noch erläutern, Graf Eolair.« Jiriki stand auf. »Gewiss seid Ihr müde. Wir haben Euch einen großen Teil Eurer Schlafenszeit geraubt.«
»Aber dieses Wesen … dieses Rote-Hand-Wesen … ist es hier? Habt Ihr es gesehen?«
Jiriki wies auf das Lagerfeuer. »Muss man die Flammen berühren, um zu wissen, dass Feuer heiß ist? Es ist hier, und darum haben wir auch bisher ihre stärkste Verteidigung nicht überwinden können, sondern mussten Steinmauern einreißen und uns mit Schwert und Speer plagen. Tief im Herzen des Bergfrieds von Naglimund lodert ein großer Teil von Inelukis Kraft. Aber bei all seiner Macht gibt es für den Sturmkönig auch Grenzen. Er hat sich sehr weit ausgedehnt … darum muss es einen guten Grund geben, weshalb er diese Stätte in der Hand der Hikeda’ya belassen will.«
Auch Eolair war aufgestanden. Die Fülle fremder Gedanken und Namen hatte ihn so angestrengt, dass er jetzt tatsächlich Schlaf brauchte. »Vielleicht steht ja die Aufgabe der Nornen in einem Zusammenhang mit der Roten Hand«, meinte er. »Vielleicht …«
Jiriki lächelte traurig. »Wir haben Euch mit unserem eigenen Fluch angesteckt … jenem ewigen ›vielleicht‹, Graf Eolair. Wir hatten gehofft, von Euch Antworten zu erhalten, aber stattdessen haben wir Euch mit unseren Fragen belastet.«
»Ich bin auf der Suche nach Antworten, seit der alte König Johan starb.« Eolair unterdrückte ein Gähnen. »Darum ist mir das alles nicht fremd.« Er grinste. »Was sage ich da! Es ist zum Wahnsinnigwerden fremd. Aber nicht ungewöhnlich. Nicht in Zeiten wie diesen.«
»Nicht in Zeiten wie diesen«, bestätigte Jiriki.
Eolair verneigte sich vor Likimeya und nickte dem unerschütterlichen Kuroyi Lebewohl zu, bevor er in den kalten Wind hinaustrat. In seinem Kopf summten die Gedanken wie Fliegen, aber er wusste, dass er im Augenblick nichts Vernünftiges damit anfangen konnte. Was er nötig hatte, war Schlaf. Vielleicht hatte er ja Glück und verschlief den ganzen Rest dieser von den Göttern verfluchten Belagerung.
Während der müde Wächter – er schien ein recht trauriges und armseliges Beispiel für die Gunst des Himmels zu sein, aber wer warsie, die Götter in Frage zu stellen – am Feuer mit einem seiner Kameraden schwatzte, hatte Maegwin leise das Zelt verlassen. Jetzt stand sie im tiefen Schatten eines kleinen Gehölzes, keine hundert Ellen unterhalb der eingestürzten Wälle von Naglimund. Über ihr ragte die dunkle Masse der steinernen Festung auf. Sie starrte hinauf. Der Wind wehte Schnee über ihre Stiefel.
Scadach, dachte sie. Ja, es ist das Loch im Himmel Aber was liegt dahinter?
Sie hatte die Dämonen gesehen, die aus der äußeren Finsternis hereingeschwärmt kamen, grausige, leichenweiße Gestalten und riesige, zottige Ungeheuer. Sie hatte zugeschaut, wie die Götter und ein paar sterbliche Helden mit ihnen kämpften. Ihr war klar, dass die Götter diese Wunde im himmlischen Fleisch heilen wollten, damit nichts Böses mehr von dort eindringen konnte. Eine Zeitlang hatte alles nach einem leichten Sieg für die Götter ausgesehen. Jetzt war sie nicht mehr so sicher.
Irgendetwas war da … etwas im Inneren von Scadach. Etwas Dunkles, entsetzlich Starkes, etwas, das leer war, aber dennoch lebendig flackerte wie eine Flamme. Sie konnte es spüren, konnte fast seine furchtbaren Gedankengänge hören. Schon der leise Hauch seines
Weitere Kostenlose Bücher