Der Engelsturm
Grübelns, der ihr Gehirn berührte, erfüllte sie mit Verzweiflung. Aber trotzdem lag etwas sonderbar Vertrautes in den Gedanken dieses Wesens, das da in Scadach lauerte, was immer es auch sein mochte, dieses von den Göttern Verfluchte, das da so zornig in der Tiefe brannte. Sie fühlte sich seltsam von ihm angezogen, wie von einem unheimlichen, unwiderstehlichen Bruder. Das abscheuliche Etwas … ähnelte ihr.
Aber wie konnte das sein? Was für ein verrückter Einfall! Was konnte diese nagende, boshafte Hitze für Eigenschaften haben, die auch nur die geringste Ähnlichkeit mit denen einer sterblichen Königstochter, eines erschlagenen Lieblings der Götter aufwiesen, der erlaubt worden war, durch die himmlischen Gefilde zu reiten?
Stumm und reglos stand Maegwin im Schnee und ließ die unverständlichen Gedanken des Wesens im Inneren von Scadach über sich hinfluten. Sie fühlte seinen Aufruhr. Hass, es empfand Hass … und noch etwas anderes. Hass auf die Lebenden, verbunden mit einer qualvollen Sehnsucht nach Ruhe und Tod.
Sie zitterte. Wie konnte es im Himmel so kalt sein, selbst hier an seiner schwarzen äußeren Grenze?
Aber ich sehne mich nicht nach dem Tod! Vielleicht habe ich es getan, als ich noch lebte, eine Zeitlang. Aber das liegt nun hinter mir. Weil ich gestorben bin – gestorben – und die Götter mich zu sich in ihr Reich genommen haben. Warum empfinde ich das immer noch so stark? Ich bin tot. Ich fürchte mich nicht mehr wie früher. Ich tat meine Pflicht und holte die Götter, um mein Volk zu retten, das kann niemand bestreiten. Ich trauere nicht mehr um Bruder und Vater. Ich bin tot, und nichts kann mir schaden. Ich habe nichts gemeinsam mit diesem … Wesen … dort draußen in der Finsternis, jenseits der Mauern aus Himmelsstein.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Aber wo ist mein Vater? Wo ist Gwythinn? Sind sie nicht beide als Helden gestorben? Gewiss haben die Götter doch auch sie nach ihrem Tod zu sich genommen wie mich. Und gewiss haben sie doch darum gebeten, hier mitkämpfen zu dürfen, Seite an Seite mit den Herrschern des Himmels? Wo sind sie?
Zutiefst betroffen stand Maegwin da. Wieder überlief sie ein Schauer. Elend kalt war es hier. Führten die Götter sie an der Nase herum? Oder musste sie noch eine weitere Prüfung bestehen, bevor sie mit ihrem Vater und Bruder, mit ihrer vor langer Zeit verstorbenen Mutter Penemhwye vereint würde? Wie war das möglich?
Unruhig machte sie kehrt und eilte den Hang wieder hinunter, den Lichtern der anderen heimatlosen Seelen zu.
Mehr als fünfhundert Spießkämpfer aus Metessa standen Schulter an Schulter am Eingang des Onestrinischen Passes, die Schilde so über die Köpfe gehoben, dass es aussah, als hätte sich ein riesiger Tausendfüßler in der Engstelle unter den Klippen verschanzt. Die Männer des Barons trugen Panzer aus gesottenem Leder und Eisenhelme, eine Ausrüstung, die vom langen Gebrauch schartig und abgewetzt war. Über den gezackten Spießen wehte das Kranichbanner ihres Hauses.
Überall auf den Hängen der Schlucht waren Nabbanai-Bogenschützen postiert, die mit ihren Pfeilsalven den Himmel verdunkelten.Die meisten Geschosse prallten vom Schutzdach der Metessaner ab, ohne Schaden anzurichten, aber manche fanden ihren Weg durch die aneinandergeschobenen Schilde. Doch wo immer ein Mann aus Metessa fiel, rückten seine Kameraden nur dichter zusammen.
»Die Bogenschützen können sie nicht in die Flucht schlagen!«, jubelte Sludig. »Varellan muss angreifen. Bei Ädon, die Krieger des Barons sind stolze Bastarde!« Er sah Isgrimnur begeistert an. »Josua hat seine Verbündeten gut gewählt.«
Der Herzog nickte, konnte aber Sludigs freudige Erregung nicht recht teilen. Er stand bei Josuas besten Truppen, die man seit neuestem die »Burgwächter« des Prinzen nannte – eine merkwürdig Bezeichnung, fand Isgrimnur, denn der Prinz hatte keine Burg mehr –, oben am Hang und wünschte sich nur eines: das Ende des Kriegs. Er hatte das Kämpfen satt.
Während er so in das enge Tal blickte, fiel ihm die große Ähnlichkeit der vorspringenden Berge zu beiden Seiten mit einem Brustkorb auf, dessen Brustbein die Anitullanische Straße bildete. Als Priester Johan sich vor über fünfzig Jahren durch ebendieses Frasilis-Tal den Weg zum Sieg erfochten hatte, hieß es, so viele seien gestorben, dass man es monatelang nicht geschafft hätte, alle Toten zu begraben. Der Pass und das freie Land im Norden des Tals seien übersät gewesen
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