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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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nicht vorstellen, dass jemand oder etwas den Baum gebrauchen konnte wie ein Werkzeug. Der stand da und träumte und wartete auf niemanden. Er war weder gut noch böse, er war nur. Noch lange, nachdem er den Fuß der Treppe hinter sich gelassen hatte, spürte Simon diese lebendige Gegenwart.
    Das Licht der Fackel schwand zusehends. Als Simon die ersten paar hundert Stufen zurückgelegt hatte, erlosch sie ganz. Die Tatsache, dass er schon lange damit gerechnet hatte, machte den Augenblick nicht weniger schlimm. Simon brach zusammen und saß in völliger Finsternis da, zu erschöpft, um auch nur zu weinen. Er aß ein wenig Brot und biss ein Stück Zwiebel ab. Dann presste er etwas von dem letzten Wasser aus seinem allmählich trocken werdenden Hemd. Als er fertig war, atmete er tief ein und machte sich daran, die Treppe auf Händen und Knien hinaufzukriechen, wobei er in der Schwärze vor sich hertastete.
     
    Es war schwer zu sagen, ob die Stimmen, die ihn verfolgten, Gespenster aus dem unterirdischen Reich oder nur das Geschwätz seiner eigenen ungeordneten Gedanken waren.
    Klettre nur weiter. Bald ist es so weit.
    Wieder auf den Knien, Mondkalb?
    Steinstufe auf Steinstufe ging durch seine Hände. Die Finger waren taub, in Knien und Schienbeinen pochte ein dumpfer Schmerz.
    Der Eroberer kommt! Bald ist es so weit.
    Aber einer fehlt!
    Es kommt nicht darauf an. Die Bäume brennen. Alles ist tot und dahin. Es kommt nicht darauf an.
    Während er weiter die Wendeltreppe hinaufkroch, malte er sich aus, im Bauch eines großen Tieres unterwegs zu sein. Vielleicht des Drachen – des Drachen, von dem die Inschrift in seinem Ring sprach. Er hielt inne und betastete seinen Finger, um das tröstliche Gefühl des Metalls zu spüren. Was hatte Binabik über den Inhalt der Schrift gesagt?
    Drache und Tod?
    Vielleicht Tod durch einen Drachen. Ein Drache hat mich verschlungen, und ich bin tot. Ich muss nun auf ewig in ihm herumkriechen, immer im Kreis, immer im Dunkeln. Vielleicht ist ja noch jemand gefressen worden. Es ist so einsam …
    Der Drache ist tot, sagten die Stimmen. Nein, der Drache ist selbst der Tod, versicherten andere.
    Simon setzte sich hin und aß noch ein paar Bissen. Sein Mund war trocken, aber er nahm nur ein paar Tropfen Wasser zu sich, bevor er den Aufstieg auf allen vieren fortsetzte.
    Endlich rastete er wieder, um Atem zu schöpfen und vielleicht zum dutzendsten Mal seit Betreten der Treppe das schmerzende Bein auszuruhen. Während er keuchend dasaß, flackerte plötzlich ein Licht auf. Ihm kam der verrückte Gedanke, seine Fackel sei von selbst aufgeflammt, aber dann erinnerte er sich, dass er das erloschene Holz ja in seinen Gürtel gesteckt hatte. Einen schrecklich schönen Augenblick lang erstrahlte der ganze Treppenschacht in blassgoldenem Licht, und Simon sah empor in unendliche Fernen durch eine immer kleiner werdenden Stufenspirale, die geradewegs in den Himmel führte. Gleich darauf sprang mit einem lautlosen Donnerschlag ein Ball aus zornigen Flammen hoch über ihm auf und ließ die Luft rot erglühen. Für einen Augenblick wurde der Treppenschacht heiß wie ein Schmiedeofen. Simon schrie angstvoll auf.
    Nein! , kreischten die Stimmen. Nein! Sprich das Wort nicht! Du rufst das Nichtsein herbei!
    Ein Krachen, lauter als Donner, dann ein blauweißer Blitz, der alles in reine Helligkeit auflöste. Gleich darauf herrschte wieder tiefste Schwärze.
    Simon lag auf den Stufen und schnappte nach Luft. War es wirklich dunkel, oder hatte der Blitz ihn erblinden lassen? Wie konnte er es feststellen?
    Ist das denn wichtig?, fragte eine spöttische Stimme.
    Er presste die Finger auf die geschlossenen Lider, bis matte Funken blau und rot in der Finsternis tanzten, aber das bewies nichts.
    Ich werde es erst dann wissen, wenn ich auf etwas stoße, das ich sehe oder sehen müsste.
    Etwas Entsetzliches fiel ihm ein. Was, wenn er geblendet an einemAusgang vorbeikroch, einer hellen Türöffnung, einem Portal, das dem Himmel offenstand?
    Nicht nachdenken. Klettern. Nicht denken.
    Mühsam kämpfte er sich weiter. Nach einer Weile verlor er sich in Vorstellungen von gänzlich anderen Orten, anderen Zeiten. Er sah Erchester und seine Umgebung, wie er sie von der Glockenstube des Engelsturms aus gesehen hatte – die welligen Hügel und umzäunten Gehöfte, die kleinen Häuschen, die Menschen und Tiere, die unter ihm ausgebreitet lagen wie Holzspielzeug auf einer grünen Decke. Er wollte sie warnen, sie fortschicken, ihnen

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