Der Engelsturm
zur Oberfläche fand, sogar wenn Menschen in der Nähe waren, hieß das noch lange nicht, dass sie ihn auch durchfüttern würden. Wenn er in Erchester oder in einem der kleinen Dörfer am Kynslagh auftauchte, würde er vielleicht einen Unterschlupf und sogar Verbündete finden; kam er im Hochhorst ans Licht, konnte es sein, dass er nur auf Feinde stieß. Und auch wenn er sich über die Bedeutung des Tellers irrte, würde er trotzdem froh sein, den Rest der Mahlzeit noch zur Verfügung zu haben, wenn die erregende Wirkung des Apfels verflogen war.
Er nahm seine Fackel, die noch trüber geworden war und in durchsichtigem Azurblau brannte, und ging zurück in den Korridor, dann weiter bis zur Abzweigung. Plötzlich lief es ihm kalt den Rücken hinunter. In welche Richtung war er zuletzt gegangen? Er hatte es so eilig gehabt, Abstand zwischen sich und alle, die womöglich nach ihrem Essen suchten, zu legen, dass er die bisherige Sorgfalt hatte fahren lassen. War er links abgebogen, wie er es immer tun wollte? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass dem nicht so war.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf die bisher angewendete Methode zu verlassen. Er nahm also die rechte Abzweigung. Wenige Augenblicke später war er sicher, sich geirrt zu haben; der Weg führte nach unten. Er kehrte um und wählte einen anderen Gang, aber auch der verlief abfallend. Eine kurze Prüfung ergab, dass alle Abzweigungen nach unten führten. Simon ging dorthin zurück, wo er den Apfel gegessen hatte und fand den heruntergefallenen Stiel. Aber als er die flackernde Fackel dicht über den Boden hielt, sah er, dass die einzigen Fußspuren im Staub dorthin zurückwiesen, woher er gekommen war.
Verfluchter Ort! Verfluchter, wahnsinniger Irrgarten!
Wieder trottete er zum Kreuzweg. Etwas war geschehen, daran gab es keinen Zweifel – die Tunnel hatten sich wieder einmal auf geheimnisvolle Weise verschoben. Simon ergab sich in sein Schicksal, wählte den am wenigsten steilen Pfad und setzte seine Wanderung fort.
Der Gang wand und schlängelte sich immer weiter zurück in dieTiefe. Bald zeigten die Wände wieder Sithiarbeiten, Reste verschlungener Steinschnitzereien, bedeckt von jahrhundertealtem Schmutz. Der Gang wurde breiter, dann noch breiter. Simon trat hinaus in eine riesige, offene Höhle. Er merkte es nur am weithin hallenden Echo seiner Schritte; die Fackel war jetzt kaum mehr als ein schwelendes Glühen.
Die gewölbte Riesenkammer schien so hoch zu sein wie die, in der der große Teich lag. Als seine Augen sich an die größere Weite gewöhnten, fasste er neuen Mut, denn auch in anderer Hinsicht erinnerte die Höhle an die Halle mit dem Teich: auch sie war umrundet von einer gewaltigen Treppe, die an der Wand hinauf ins Dunkel führte. Von der Mitte des Raums kam ein milder Glanz. Simon bewegte sich darauf zu und erkannte im Licht der sterbenden Fackel einen großen Ring aus Steinen, der vielleicht einmal den Sockel eines Springbrunnens gebildet haben mochte. In seinem Mittelpunkt wuchs aus schwarzer Erde ein hoher Baum. Zumindest schien es ein Baum zu sein – an seinem Fuß ahnte man bucklige, knorrige Wurzeln, weiter oben wunderlich ineinander verschlungene Äste –, aber so dicht Simon auch die Fackel daran hielt, er konnte keine Einzelheiten erkennen, als sei der Baum von undurchdringlichen Schatten umhüllt.
Als er sich näher beugte, rauschte der Schattenbaum in einem Wind, den Simon nicht spürte. Es klang wie tausend trockene Hände, die sich aneinander rieben. Simon sprang erschrocken zurück. Er hatte den Baum gerade anfassen wollen, überzeugt, es handele sich um ein Kunstwerk aus Stein. Jetzt unterließ er es lieber, drehte sich um und lief zum Fuß der Wendeltreppe hinüber.
Während er die Halle umkreiste und sich im ermattenden Schein der Fackel seinen Weg auf den Stufen suchte, ging ihm der Baum in ihrer Mitte nicht aus dem Sinn. Er konnte das atmende Geräusch der Blätter hören, die sich bewegten, und empfand noch viel stärker als vorher, dass der Baum lebte. Er war in der Dunkelheit so greifbar wie jemand, der neben ihm im Bett lag. Es war ein Gefühl, wie er es noch nie gehabt hatte – vielleicht nicht die unverhüllte Macht, die von dem Teich ausging, sondern wie ein feiner, ungeheurer Verstand, uralt und ohne jede Eile. Der Zauber des Teichs war wie ein prasselndesFeuer, etwas, das brennen oder leuchten konnte, aber beides nur dann tat, wenn jemand da war, der seine Macht lenkte. Simon konnte sich
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