Der Engelsturm
sagen, dass ein Schreckenswinter drohte.
Er sah Morgenes. Seine Brillengläser glitzerten im Licht des Nachmittags, sodass seine Augen blitzten, als brenne ein Feuer darin. Morgenes versuchte, ihm etwas zu erzählen, aber Simon, der törichte, junge Simon, sah lieber einer Fliege zu, die am Fenster summte. Hätte er doch zugehört! Hätte er doch nur gewusst, was ihnen allen bevorstand!
Und er sah die Burg, ein phantastisches Durcheinander von Türmen und Dächern, von denen im Frühlingswind die Banner wehten. Der Hochhorst, seine Heimat. Seine Heimat, wie sie gewesen war und nie mehr sein würde. Ach, was hätte er darum gegeben, das Rad der Zeit anhalten und zurückrollen lassen zu können! Könnte er nur seine Seele dafür verpfänden! Denn was war eine Seele schon wert, verglichen mit dem Glück einer wiederhergestellten Heimat?
Der Himmel hinter dem Hochhorst wurde heller, als sei die Sonne hinter einer Wolke hervorgetreten. Simon spähte. Vielleicht war es doch nicht Frühling … war es Hochsommer?
Die Türme des Hochhorsts verblassten, aber das Licht blieb.
Licht! Es war ein schwacher, unbestimmter Schimmer, nicht stärker als Mondglanz im Nebel, aber Simon konnte ihn sehen. Er sah den verschwommenen Umriss der Stufe vor sich, seine schmutzverkrustete, schorfige Hand darauf. Er konnte sehen!
Er blickte sich um und suchte die Lichtquelle. Soweit er es erkennen konnte, führten die Stufen weiter aufwärts. Das Licht, matt wie ein Irrwisch, kam irgendwo von oben.
Er rappelte sich auf, schwankte einen Moment wie betrunken undbegann aufrecht weiterzugehen. Zuerst erschien es ihm seltsam, und er musste sich an der Wand abstützen, bald aber kam er sich fast wieder wie ein Mensch vor. Jeder Schritt, so mühsam er auch war, brachte ihn dem Licht näher. Jedes Stechen im verstauchten Knöchel führte ihn in die … wohin? Er hoffte, dass es die Freiheit war.
Die Treppe, die ihm während des Blitzstrahls grenzenlos erschienen war, fand in Wirklichkeit unvermittelt ein Ende. Die Treppe mündete auf einen breiten Absatz und hörte dort auf. Stattdessen war das Treppenhaus mit einer niedrigen, aus Ziegelsteinen roh gemauerten Decke versiegelt, als hätte man versucht, es zu verkorken wie einen Flaschenhals. Aber an einer Seite fiel Licht ein. Simon schlurfte – geduckt, um sich nicht den Kopf zu stoßen – auf den hellen Fleck zu und fand eine Stelle, an der die Ziegelsteine heruntergefallen waren und eine Lücke gelassen hatten, die gerade groß genug war, um hindurchzuklettern. Simon sprang in die Höhe, aber seine Hände fanden keinen Halt. Wenn es eine Oberseite gab, kam er nicht heran. Er versuchte es nochmals, aber ohne Erfolg.
Er starrte hinauf zu der Öffnung, und eine hoffnungslose Müdigkeit senkte sich auf ihn. Er sackte auf dem Treppenabsatz zusammen und hockte dort, den Kopf in den Händen. So weit geklettert zu sein und nun …
Er aß den Brotkanten auf, wog die Zwiebel in der Hand und fragte sich, ob er sie nicht am besten gleich mitaß; dann steckte er sie wieder weg. Noch würde er nicht aufgeben. Nach kurzem Nachdenken schleppte er sich zu dem Haufen von Ziegelsteinen, die von der Decke abgebröckelt waren, und machte sich daran, sie aufeinanderzuschichten. Als er den Stapel so fest wie möglich verkeilt hatte, kletterte er hinauf. Wenn er jetzt nach oben griff, reichten seine Hände weit in die Spalte hinein, aber trotzdem konnte er keine Oberseite fühlen. Er spannte alle Muskeln an und sprang. Ganz kurz berührte er oben im Loch eine Kante, aber gleich darauf rutschten seine Hände ab, und er fiel herunter, verlor auf dem Ziegelsteinhaufen den Halt und verdrehte sich den schon verstauchten Knöchel. Er biss sich auf die Lippen, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien. Dann stapelte er mühsam die Ziegel wieder auf, stieg wieder nach oben, duckte sich und sprang.
Dieses Mal war er vorbereitet. Er bekam den oberen Rand des Lochs zu fassen und hing mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen Armen. Nach ein paar tiefen Atemzügen zog er sich hoch, vor Anstrengung am ganzen Körper zitternd.
Noch ein Stück, noch ein Stück, nur noch ein kleines Stück …
Die Bruchkanten der Ziegelmauer umgaben ihn auf allen Seiten. Als er sich höher zog, stieß er mit den Ellenbogen dagegen und hatte einen Augenblick das Gefühl, dass er in diesem Loch stecken bleiben würde, gefangen, gerupft und aufgehängt wie ein Fasan. Wieder atmete er tief, biss die Zähne zusammen, um den Schmerz in seinen Armen zu
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