Der Engelsturm
ergab nichts als die grauenvolle Einrichtung, eine unfassliche Ansammlung von Gebeinen. Simon hoffte, dass sich auch Tierknochen darunter befanden, aber er bezweifelte es. Das beharrliche Summen der Grille vertrieb ihn auch diesmal.
Der nächste Raum war vollständig mit Wannen vollgestellt, die mit ausgespannten Netzen verschlossen waren. Wesen, die Simon nicht genau erkennen konnte, wälzten sich plätschernd in dunklen Flüssigkeiten. Ab und zu wölbten sich die Netze nach außen, wenn ein glitschiger Rücken oder ein merkwürdig auslaufendes Körperglied dagegendrückte. In einer weiteren Kammer fand Simon tausendevon kleinen, silbrigen Figuren, die mit verblüffender Genauigkeit und Wirklichkeitstreue Männer und Frauen darstellten. Jedes winzige Standbild war die vollkommene Wiedergabe eines vor Furcht oder Verzweiflung erstarrten Menschen. Als Simon eine der Figuren in die Hand nahm, fühlte sich das glänzende Metall schlüpfrig und eigentümlich warm an. Rasch stellte er sie wieder hin und verließ rückwärts den Raum. Er war überzeugt, dass sie sich in seinem Griff gewunden hatte.
So wanderte er von einem Raum zum anderen, immer wieder aufs Neue erschüttert von dem, was er entdeckte, sei es von der schieren Widerwärtigkeit von Pryrates’ Schätzen, sei es von ihrer Rätselhaftigkeit. Das letzte Zimmer des Erdgeschosses enthielt ebenfalls ein paar Knochen, die aber viel zu groß waren, um einem menschlichen Wesen gehört zu haben. Sie brodelten in einem großen Fass, das über einem Ölbrenner hing, und erfüllten die Luft mit bestialischem Gestank. Aus einem Hahn in der Seite des Fasses rann eine dicke, schwarze Flüssigkeit in zähen Tropfen in eine geräumige steinerne Schüssel. Der übelriechende Dampf, der von ihr aufstieg, machte Simon ganz schwindlig. Die Narbe auf seiner Wange brannte plötzlich. Eine rasche Durchsuchung ergab keine Spur des Schwertes, und Simon kehrte dankbar in die vergleichsweise frische Luft vor der Tür zurück.
Nach kurzem Zögern erklomm er die Treppe zum nächsten Stockwerk. Bestimmt gab es auch in den Katakomben unter dem Turm noch viel zu entdecken, aber damit hatte er es nicht eilig. Diesen Teil der Suche würde er bis zum Schluss aufschieben und beten, dass er vorher auf das Schwert stieß.
Ein Raum voller Glasbehälter und Retorten, sehr ähnlich denen, die Morgenes auch gehabt hatte, ein anderer, dessen Wände und Decke voll ungewöhnlich dicker Spinnweben hingen – hier suchte Simon nur kurz und flüchtig –, ein dritter, der wie ein Gewächshausdschungel voller Schlingpflanzen und fetter, fauliger Blüten wirkte – Simon durchschritt sie einen nach dem anderen und kam sich immer mehr wie der Bauernjunge im Märchen vor, der in das Zauberschloss des Hexers eindringt. Einige Kammern hatten einen so grausigen Inhalt, dass er es einfach nicht über sich brachte, länger als einenAugenblick in die düsteren Schatten zu spähen. Es gab eben Dinge, zu denen er sich trotz allem nicht zwingen konnte; wenn das Schwert in einer dieser Kammern lag, würde es liegen bleiben.
Ein Raum, der auf den ersten Blick nicht weiter erschreckend wirkte, enthielt nur ein kleines Feldbett mit einer Liegefläche aus merkwürdig geflochtenen Lederriemen. Zuerst dachte Simon, dass hier vielleicht Pryrates schlief … bis er das Loch im Steinboden und die Flecken unter dem Lager sah. Schaudernd eilte er hinaus. Viel länger würde er nicht in diesem Turm bleiben können, ohne den Verstand zu verlieren, das wusste er.
Im fünften Stockwerk dieses Albtraumhauses zauderte Simon. Dies war die Ebene, in der die großen roten Fenster lagen. Wenn er mit seiner Fackel durch die Zimmer ging, bestand die Möglichkeit, dass jemandem draußen das Flackern von Licht auffiel. Nach einigem Nachdenken steckte er seine Fackeln in eine der hohen Wandhalterungen des Vorraums. Es war ihm klar, dass er in fast völliger Dunkelheit weitersuchen musste, aber er war so lange unter der Erde gewesen, dass er das Gefühl hatte, dafür besser geeignet zu sein als so ziemlich jeder andere, außer natürlich einem Sitha … oder einem Nornen.
Auf diesen Treppenabsatz mündeten nur drei Räume. Der erste war wieder eine kahle Kammer mit einem Feldbett, unter dem sich aber kein Abfluss im Boden befand. Simon zweifelte nicht daran, diesmal wirklich Pryrates’ Schlafraum vor sich zu haben; die kalte Leere des Raums schien allzu passend. Simon konnte sich den schwarzäugigen Priester vorstellen, wie er auf dem
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