Der Engelsturm
getragen zu werden. Ich habe Euren Vater gut gekannt, er wäre stolz auf Euch gewesen.«
»Ich wünschte, ich könnte Euch glauben.« Varellan, den seine Armschlinge behinderte, zog mühsam eine schmale goldene Gerte aus dem Gürtel. Sie wurde von der Figur eines Vogels mit hohem Schopf gekrönt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kniete der Herzogssohn nieder. »Prinz Josua, hier ist das Zeichen meines Amtes, der Stab des Kriegführers der Benidriviner. Ich erkläre die Unterwerfung der unter meinem Befehl stehenden Männer. Wir sind Eure Gefangenen.«
»Nein.« Bei diesem Wort ging ein Raunen der Überraschung durch die umstehende Menge. »Nicht mir ergebt Ihr Euch.«
Verständnislos und finster sah Varellan ihn an. »Herr?«
»Die Soldaten von Nabban haben sich keinem fremden Heer ergeben. Der Euch besiegt hat, ist das rechtmäßige Oberhaupt EuresHauses. Obwohl Euer Bruder einen Vatermord begangen hat – ich weiß, dass Ihr mir das noch nicht glaubt, Varellan, aber es ist so –, wird das benidrivinische Haus weiterregieren, auch dann, wenn Benigaris in Ketten liegt.« Er trat zurück. »Ihr ergebt Euch Camaris, nicht mir.«
Camaris, der noch verblüffter schien als Varellan, sah Josua fragend an. Dann streckte der alte Ritter nach kurzem Zögern den langen Arm aus und nahm den Stab sanft aus den Fingern des Jünglings.
»Steh auf, Neffe«, sagte er. »Du hast unserem Haus nur Ehre gebracht.«
In Varellans Zügen stritten sich die Gefühle. »Wie ist das möglich? Entweder Ihr und Josua lügt und ich habe unseren wichtigsten Pass an einen Thronräuber verloren, oder ich habe für die Sache eines Mannes, der meinen Vater ermordet hat, Hunderte tapferer Krieger in den Tod geschickt!«
Camaris schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr schuldlos geirrt habt, trifft Euch kein Vorwurf.« In seiner Stimme lag eine sonderbare Schwermut, und vor seinem Blick schien etwas anderes zu stehen als der zutiefst verstörte junge Mann. »Nur wenn man freiwillig Böses tut, auch wenn die Tat gering und töricht scheint, trauert Gott.« Er blickte auf Josua, der nickte. Der alte Ritter drehte sich um und sah die ringsum versammelten Soldaten und Gefangenen an. »Hiermit erkläre ich, dass alle, die mit uns für die Befreiung von Nabban kämpfen wollen, freie Männer sein sollen!«, rief er so laut, dass man es bis in die fernsten Winkel des Heerlagers hören konnte. Er hob den Stab, und noch einmal schien es, als umblitze ihn das grelle Licht der Schlacht. »Das Haus des Eisvogels wird sich seine Ehre zurückholen!«
Von den Männern kamen laute Rufe. Selbst Varellans besiegtes Heer schien überrascht zu sein und neuen Mut zu fassen.
Tiamak benutzte den Beginn der allgemeinen Feier dazu, sich durch die Soldaten zu drängen und an Josuas Seite zu schlüpfen. Der Prinz wechselte gerade ein paar weitere leise Worte mit dem noch immer zornigen und verwirrten Varellan.
»Hoheit?« Der Wranna stand neben dem Prinzen und war sichinmitten so vieler gepanzerter Riesen der eigenen kleinen Gestalt unbehaglich bewusst. Wie hielten der kleine Binabik und seine Trollbrüder – keiner von ihnen größer als zwei Drittel von Tiamaks Höhe – das aus?
Josua drehte sich nach ihm um. »Einen Augenblick noch, Tiamak, bitte. Varellan, das alles reicht viel tiefer zurück als nur bis zur Tat Eures Bruders am Stierrückenberg. Ihr werdet Dinge hören, die Euch seltsam und unglaublich vorkommen werden – aber ich muss Euch sagen, dass in der letzten Zeit das Unmögliche zum Tatsächlichen geworden ist.«
Tiamak hatte keine Lust zu warten, bis Josua die ganze Geschichte vom Krieg des Sturmkönigs erzählt hatte. »Bitte, Prinz. Man hat mich zu Euch geschickt, weil Eure Gemahlin, die Herrin Vara, im Begriff steht, ihr Kind zu gebären.«
»Was?« Plötzlich gehörte ihm Josuas ungeteilte Aufmerksamkeit. »Geht es ihr gut? Ist alles in Ordnung?«
»Das kann ich nicht sagen. Herzogin Gutrun schickte mich sofort zu Euch, als es anfing. Ich bin den ganzen Weg vom Kloster hergeritten – und ich bin das Reiten nicht gewöhnt.«
Tiamak widerstand der Versuchung, sich das schmerzende Hinterteil zu reiben, denn so freundschaftlich seine Beziehung zum Adel des Reiches sich auch entwickelt hatte, gab es vermutlich doch noch gewisse Grenzen. Allerdings tat es wirklich weh. Das Herumreiten auf einem Tier, das so viel größer war als man selbst, hatte etwas Unkluges und Gefährliches. Eine Angewohnheit der Trockenländer, die er bestimmt nicht annehmen
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