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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Rücken lag, ins Nichts starrte und seine Netze wob. Das Zimmer verfügte über einen Abtritt, eine eigenartig menschliche Einrichtung für ein so unmenschliches Geschöpf.
    Der zweite Raum enthielt eine Art Reliquienschrein. An sämtlichen Wänden standen Regale, vollgestellt mit Figuren. Sie waren nicht wie die silbernen Figürchen im Erdgeschoss alle gleich groß, sondern es gab sie in unzähligen Formen. Manche erinnerten an Heiligenbilder, andere an schiefe Holzfetische, wie Kinder oder Geistesgestörte sie schnitzen. In gewisser Weise war es ein faszinierender Anblick. Hätte Simon sich nicht derart dem Grauen des entsetzlichenTurms ausgeliefert gefühlt und wäre er sich nicht des unglaublichen Wagnisses bewusst gewesen, das er mit seiner bloßen Anwesenheit hier einging, hätte er sich vielleicht gern die Zeit genommen, die bizarre Sammlung genauer zu betrachten. Manche Figuren bestanden aus Wachs mit aus den Köpfen herausragenden Dochten, andere waren kaum mehr als ein Gemisch von Knochen, Lehm und Federn, aber jede besaß eine erkennbare Gestalt, auch wenn einige mehr Tieren als Menschen ähnelten.
    Nur ein Schwert war nirgends zu sehen. Als Simon den Raum verließ, schienen die Augen der Figuren ihm zu folgen.
    Der letzte und größte Raum war wohl die Studierstube des Priesters. Hier fielen die großen, blutroten Fenster am meisten ins Auge, weil sie einen großen Teil der runden Wand einnahmen. Sie waren dunkel, denn draußen war Nacht. Das Zimmer war vollgestopft mit Schriftrollen, Büchern und vielen anderen Dingen, die einen ebenso seltsamen und unerfreulichen Eindruck machten wie der Inhalt der anderen Kammern. Wenn er das Schwert auch hier nicht fand, blieben nur noch die Katakomben unter dem Turm. Ganz oben auf dem Dach standen eine Vielzahl von Geräten zum Beobachten der Sterne und andere rätselhafte Maschinen, das hatte er am späten Nachmittag von einem der schmalen Fenster des Engelsturms aus gesehen. Er nahm nicht an, dass etwas so Wertvolles wie das Schwert dort oben im Freien versteckt war, aber er würde trotzdem nachschauen. Nur auf nichts verzichten, das ihm vielleicht den Weg unter Hjeldins Denkmal ersparte …
    Die Studierstube war voll dunkler Schatten und allzu vieler Gegenstände. Überall auf dem Fußboden lag etwas, nur die Wände waren merkwürdig kahl; dort gab es weder Möbel noch andere Dinge. Mitten im Raum stand mit dem Rücken zur Tür ein hochlehniger Sessel. Er war umringt von freistehenden Schränken und Truhen, die von Pergamenten und Büchern in schweren Einbänden überquollen. Im schwachen Schein der Fackel draußen im Vorraum sah Simon, dass die Wand unter den Fenstern mit hellen, aufgemalten Runen bedeckt war.
    Er ging ein paar Schritte darauf zu und stolperte plötzlich. Irgendetwas stimmte nicht. Er spürte ein sonderbares Prickeln, ein Übelkeiterregendes Gefühl von Unsicherheit in Knochen und Eingeweiden. Gleich darauf schoss aus der Schwärze des Sessels eine Hand hervor und schloss sich um seinen Arm. Simon kreischte laut auf und wäre hingefallen, aber die Hand ließ ihn nicht los. Der kraftvolle Griff war kalt wie Frost.
    »Wen haben wir denn da?«, fragte eine Stimme. »Einen Eindringling?«
    Es gelang Simon nicht, sich loszureißen. Sein Herz raste so, dass er vor Angst zu sterben glaubte. Langsam wurde er wieder in die Höhe und um den Sessel herumgezogen, bis er in das bleiche Gesicht starren konnte, das ihn aus dem Schatten anblickte. Die Augen, die sich in die seinen bohrten, waren kaum wahrnehmbar, matte Flecken gespiegelten Lichts, aber sie schienen ihn ebenso festzuhalten wie die knochigen Finger an seinem Handgelenk.
    »Wen haben wir da?«, wiederholte der Mann, der ihn gefangen hatte, und beugte sich vor, um ihn zu mustern.
    Es war König Elias.

17
Glut am Nachthimmel

    o dringlich auch sein Auftrag und so quälend der dumpfe Schmerz in seinem Steißbein war, Tiamak musste erst einmal stehen bleiben und zuschauen, was sich auf dem weiten Berghang abspielte.
    Ihm kam der Gedanke, dass er in seinem Leben so viel Zeit darauf verwendet hatte, Schriftrollen und Bücher zu lesen, dass er nur selten die Gelegenheit wahrnehmen konnte, das, wovon sie handelten, selbst zu erleben. Bis auf seinen kurzen Aufenthalt in Ansis Pelippé und seine allmonatlichen Streifzüge über den Markt von Kwanitupul waren die Fährnisse des Lebens ihm und seinem Häuschen im Banyanbaum im Wesentlichen nicht nahegekommen. Erst in diesem letzten Jahr war Tiamak zwischen

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