Der Engelsturm
übrig, aber die Welt, in der er lebte, war nun einmal so beschaffen. Er sehnte sich nach den klaren Unterscheidungen seiner Jugend zurück, als selbst die schlimmsten Dinge, sogar der Krieg, so schrecklich er auch sein mochte, nicht in dieser Weise mit geheimnisvoller Zauberei und rätselhaften Feinden zusammenhingen. »Dass Camaris ihr Ziel war, muss an Dorn gelegen haben.«
»Vielleicht wollten sie ja auch nur Dorn allein holen«, bemerkteBinabik nüchtern, »und Camaris war für sie nicht weiter von Bedeutsamkeit.«
»Mir ist immer noch nicht klar, wie sie ihn um ein Haar überwältigen konnten«, sagte Strangyeard. »Was ist das für ein Gift, von dem Ihr erzählt habt, Aditu?«
»Kei-vishaa. Um die Wahrheit zu sagen, ist es nicht einfach ein Gift. Wir Gartengeborenen verwenden es im Hain, wenn wir das Jahr-Ende tanzen. Aber man kann es auch benutzen, um einen langen und tiefen Schlaf hervorzurufen. Mein Volk brachte es aus Venyha Do’sae mit. Als wir damals hierherkamen, machten wir davon Gebrauch, um gefährliche Tiere – zum Teil gewaltige Ungeheuer, die nun schon lange ausgestorben sind – von den Orten zu vertreiben, an denen wir unsere Städte bauen wollten. Als ich es roch, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Wir Zida’ya haben es immer nur in unseren Ritualen benutzt.«
»Und wie verwendet man es dabei?«, erkundigte sich der Archivar fasziniert.
Aditu schlug die Augen nieder. »Verzeiht mir, guter Strangyeard, aber das darf ich nicht sagen. Vielleicht hätte ich es gar nicht erwähnen sollen. Ich bin müde.«
»Wir haben keinen Anlass, Euch über die Rituale Eures Volkes auszufragen«, erklärte Josua. »Außerdem gibt es Wichtigeres zu besprechen.« Er warf Strangyeard einen verärgerten Blick zu. Der Archivar ließ den Kopf hängen. »Es reicht, dass wir wissen, wie sie Camaris überfallen konnten, ohne dass er Alarm schlug. Wir hatten Glück, dass Tiamak so geistesgegenwärtig war, das Zelt anzuzünden. Von jetzt an werden wir unsere Lager planvoller aufbauen. Alle, die besonders gefährdet sind, müssen ihre Zelte dicht beieinander und genau in der Mitte des Lagers errichten, sodass wir uns gegenseitig im Auge behalten können. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Camaris’ Wunsch nach Abgeschiedenheit nachgegeben und meine Verantwortung dabei zu leicht genommen habe.«
Isgrimnur zog die Brauen zusammen. »Wir müssen alle besser aufpassen.«
Während sie noch darüber berieten, welche weiteren Vorsichtsmaßnahmen man ergreifen könnte, erschien Freosel am Feuer.»Tut mir leid, Hoheit«, meldete er, »aber die Prinzessin ist weder in ihrem Zelt noch in der Nähe zu finden. Seit dem frühen Abend hat sie keiner mehr gesehen.«
Josua war sichtlich bestürzt. »Nicht da? Ädon behüte uns, hat Vara recht gehabt? Wollten sie doch die Prinzessin entführen?« Er sprang auf. »Ich kann nicht hier rumsitzen, wenn sie in Gefahr ist. Wir müssen das ganze Lager durchkämmen.«
»Das erledigt bereits Sludig«, wandte Isgrimnur beruhigend ein. »Wir würden nur Verwirrung stiften.«
Der Prinz ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen. »Ihr habt recht, aber das Warten fällt mir schwer.«
Kaum hatten sie ihre Beratung fortgesetzt, als Sludig zurückkehrte. Mit grimmiger Miene reichte er Josua ein Stück Pergament. »Das hier lag in Simons Zelt.«
Der Prinz überflog es und warf es dann erbost auf die Erde. Gleich darauf bückte er sich wieder, hob es auf und gab es dem Troll. Sein Gesicht war starr vor Zorn. »Entschuldigt, Binabik, das hätte ich nicht tun sollen. Es scheint für Euch bestimmt zu sein.« Er erhob sich. »Hotvig?«
»Ja, Prinz Josua?« Auch der Thrithingmann war aufgestanden.
»Miriamel ist fort. Nehmt so viele Reiter, wie Ihr in der Eile auftreiben könnt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Prinzessin den Weg nach Erkynland eingeschlagen hat, darum sucht vor allem westlich von unserem Lager. Bedenkt aber auch, dass sie vielleicht in eine andere Richtung geritten ist, um uns die Verfolgung zu erschweren.«
»Wie bitte?« Isgrimnur blickte überrascht auf. »Was soll das heißen – sie ist fort?«
Binabik sah ihn über das Pergament weg an. »Das hat Simon geschrieben. Es scheint, dass er mit ihr gegangen ist, aber er sagt auch, dass er versuchen will, sie zurückzubringen.« Das Lächeln des Trolls war dünn und ein wenig gezwungen. »Es ist die Frage in meinem Kopf, wer von den beiden der Anführer ist. Ich zweifle, dass Simon sie davon überzeugen kann, mit einiger
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