Der Engelsturm
Gleichmütig betrachtete er seine eigene Gestalt. So habe ich also ausgesehen? Aber es ist ja nichts mehr darin … wie ein leerer Krug …
Urplötzlich begriff er: Ich bin tot.
Aber wenn das stimmte, warum fühlte er dann immer noch undeutlich die Stricke, die überdehnten, fast aus den Gelenken gerissenen Arme? Warum schien er gleichzeitig in seinem Körper und außerhalb zu sein?
Wieder tanzte das Licht vor ihm, auffordernd, einladend. Simon folgte willenlos. Wie Wind in einem hohen, finsteren Schornstein wehten sie durch ein Gewirr von Schatten. Fast-Wesen streiften ihn und glitten durch ihn hindurch. Seine Verbindung mit dem Körper auf dem Rad wurde schwächer. Er fühlte, wie die Kerze seines Ichs flackerte.
»Ich will mich nicht verlieren! Lass mich zurückgehen!«
Aber der Funke, der ihn führte, flog weiter.
Wirbelnde Dunkelheit erblühte zu Licht und Farben und nahm allmählich die Form wirklicher Dinge an. Simon stand an der Mündung der großen Rinne, die das Wasserrad trieb, und sah, wie das schwarze Wasser in die Tiefe unter der Burg und in die Schmiede strömte. Als Nächstes erkannte er den stillen Teich in den verlassenen Hallen von Asu’a. Durch Risse in der Decke tropfte Wasser herunter. Die Nebel, die über dem großen Becken schwebten, schienen zu atmen, als sei dieses Wasser auf geheimnisvolle Weise im Begriff, etwas wiederzubeleben, das lange Zeit fast tot gewesen war. War esdas, was das flackernde Licht ihm zeigen wollte? Dass das Wasser aus der Schmiede den Teich der Sithi wieder gefüllt hatte? Dass er zu neuem Leben erwachte?
Andere Bilder zogen vorbei. Er sah den dunklen Umriss, der am Fuß der großen Treppe von Asu’a emporwuchs, das Baumwesen, das er fast berührt, dessen fremdartige Gedanken er gespürt hatte. Das Treppenhaus selbst war ein vielfach gewundenes Rohr, das von den Wurzeln des atmenden Baums bis hinauf zum Engelsturm führte. Kaum dachte er an den Turm, als er auch schon dessen Zinne vor sich sah, ein riesiger weißer Zahn. Schnee fiel, und dicke Wolken standen am Himmel, aber irgendwie konnte Simon durch sie hindurchsehen und das nächtliche Firmament darüber erkennen. Tief in der nördlichen Dunkelheit schwebte ein feuriges Stückchen Glut mit einem winzigen Schweif – der Erobererstern.
»Warum hast du mich hierhergebracht?« , fragte Simon. Der Lichtfleck tanzte vor ihm, als lausche er. »Was hat das alles zu bedeuten?«
Keine Antwort. Stattdessen spritzte ihm etwas Kaltes ins Gesicht.
Simon schlug die Augen auf und befand sich wieder im Inneren seines schmerzenden Fleisches. Eine verzerrte Gestalt hing verkehrt herum von der Decke und quiekte wie eine Fledermaus.
Nein. Es war einer von Inchs Männern, und Simon selbst hing kopfüber am tiefsten Punkt der Umdrehung und hörte das Quietschen der Achse. Der Mann kippte eine neue Kelle Wasser über Simons Gesicht, aber so, dass nur wenig Wasser in seinen Mund floss. Simon keuchte und würgte, versuchte zu schlucken, leckte sich Kinn und Lippen. Als die Aufwärtsdrehung einsetzte, ging der Mann wortlos fort. Kleine Tropfen rannen von Simons Kopf und Haaren, und eine Weile war er viel zu eifrig damit beschäftigt, sie aufzufangen und hinunterzuschlucken, so dass er sich nicht über seine seltsamen Visionen wundern konnte. Erst als das Rad ihn wieder nach unten führte, begann er, darüber nachzudenken.
Was hatte das alles zu bedeuten? Bei dem Feuer, das in seinen Gelenken brannte, fiel es ihm schwer, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Was war dieses glühende Ding, und was wollte es mir zeigen? Oder war es nur eine besondere Form von Wahnsinn?
Simon hatte viele seltsame Träume gehabt, seit Inch ihn dort auf dem Rad allein gelassen hatte – Erscheinungen voller Verzweiflung und Jubel. Er hatte Szenen unglaublicher Siege über seine Feinde gesehen und das schreckliche Schicksal seiner Freunde –, aber er hatte auch von ganz unbedeutenden Dingen geträumt. Die Stimmen, die er in den Tunneln gehört hatte, waren wiedergekommen, manchmal als leises Geplapper, im Spritzen und Ächzen des Rades kaum zu hören, manchmal so klar, als flüsterten sie ihm ins Ohr, Gesprächsfetzen, immer quälend nah daran, von ihm verstanden zu werden. Phantasien aller Art stürmten auf ihn ein und machten ihn schwindlig wie einen sturmgeschüttelten Vogel. Warum sollte ausgerechnet diese Vision wirklicher sein?
Weil sie anders war. Wie der Unterschied zwischen Wind auf der Haut und einer körperlichen
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