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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Treppe angegriffen hat, nicht zu uns gehörte. Binabik schien es zu kennen, aber ich hatte es noch nie gesehen.« Yis-fidri schüttelte aufgeregt den Kopf. »Nein, nein, Miriamel. Sei nicht gekränkt. Wir wissen, dass das, womit dein Freund kämpfte, keiner eurer Gefährten war – es war eine wandelnde Leere, ausgefüllt von Nichtsein. Vielleicht ist es einmal ein Sterblicher gewesen. Nein, aber da war noch jemand, der ein kleines Stück hinter euch kam.«
    »Hinter uns? Wir waren nur zu zweit. Es sei denn …« Ihr Herz wollte plötzlich aussetzen. Konnte es Simon gewesen sein, der seineFreunde suchte? War er ganz in der Nähe gewesen, als man sie entführt hatte? Nein, das wäre zu grausam.
    »Man ist euch gefolgt«, sagte Yis-fidri fest. »Ob in guter oder böser Absicht, wissen wir nicht. Wir können nur sagen, dass sich drei Sterbliche auf der Treppe befanden.«
    Miriamel schüttelte den Kopf. Sie konnte den Gedanken nicht fassen. Nach so viel Kummer nun auch noch diese Verwirrung!
    Von Yis-hadra kam ein Vogeltrillern. Ihr Gatte drehte sich um. Die Unterirdische hielt Simons Weißen Pfeil hoch.
    »Natürlich«, hauchte Yis-fidri. Die anderen Unterirdischen kamen näher und starrten den Pfeil hingerissen an. »Wir fühlten ihn, aber wir erkannten ihn nicht. Er ist nicht unser Werk, Miriamel, sonst würden wir ihn so genau kennen, wie du die Hand am Ende deines Arms kennst. Aber er ist von Vindaomeyo gemacht, einem der Zida’ya, den wir unsere Fertigkeiten und Künste lehrten. Und schau«, er streckte den Arm aus und nahm seiner Gattin den Pfeil ab, »das ist ein Stück von einem der Meisterzeugen.« Er deutete auf die wolkig blaugraue Pfeilspitze. »Kein Wunder, dass wir ihn spüren.«
    »Und dass wir ihn auf der Treppe bei uns hatten, stellt eine Gefahr dar?« Miriamel wollte wirklich gern verstehen, aber sie war nun schon so lange jeder Art von Schrecken ausgesetzt gewesen, dass die Müdigkeit sie fortzureißen drohte wie eine Unterströmung im Fluss. »Wie ist das möglich?«
    »Wir wollen versuchen, es zu erklären. Die Ordnung der Dinge verändert sich. Gleichgewichte sind ins Wanken geraten. Der rote Stein am Himmel spricht zu den Steinen in der Erde, und wir Tinukeda’ya hören die Stimmen dieser Steine.«
    »Und die Steine sagen euch, dass ihr Leute von der Treppe entführen sollt?« Sie war so erschöpft, dass es sie Mühe kostete, nicht grob zu werden.
    »Wir sind nicht freiwillig hierhergekommen«, versetzte Yis-fidri ernst. »Ereignisse in unserer Heimat und anderswo haben uns immer weiter nach Süden getrieben. Aber als uns die alten Tunnel an diesen Ort führten, merkten wir, dass die Bedrohung hier noch viel größer ist. Wir können weder vorwärts noch zurück. Darum müssen wirherausfinden, was vorgeht, um entscheiden zu können, wie wir am besten davor fliehen.«
    »Ihr wollt fliehen? Darum tut ihr das alles? Nur damit ihr Reißaus nehmen könnt?«
    »Wir sind keine Krieger. Wir sind nicht wie unsere einstigen Herren, die Zida’ya. Stets ist es die Art der Kinder des Meeres gewesen, sich anzupassen und zu überleben.«
    Miriamel schüttelte in ohnmächtigem Zorn den Kopf. Sie hatten sie gefangen und von ihrem Freund getrennt, nur um vor etwas zu fliehen, das sie nicht begriff. »Lasst mich frei.«
    »Das können wir nicht, Miriamel. Es tut uns leid.«
    »Dann lasst mich schlafen.« Sie kroch an die Wand der Höhle und rollte sich in ihren Mantel. Die Unterirdischen hinderten sie nicht daran, sondern begannen von neuem miteinander zu reden. Ihre Stimmen, melodisch und unverständlich wie Grillenrufe, folgten ihr in den Schlaf.

22
Ein schlafender Drache

    bitte, Gott, mach, dass er noch da ist!
    Das Rad trug Simon nach oben. Wenn Guthwulf unten im Dunkel noch etwas sagte, konnte Simon ihn über dem Knarren des Rades und dem Klirren der schweren Ketten nicht hören.
    Guthwulf! Konnte es derselbe Mann sein, den Simon so oft von weitem gesehen hatte – die Hand des Hochkönigs mit dem grimmigen Gesicht? Aber der hatte doch die Belagerung von Naglimund angeführt, war einer von Elias’ mächtigsten Freunden? Was hätte er hier unten zu suchen? Nein, es musste ein anderer sein. Doch wer immer es war, wenigstens besaß er eine menschliche Stimme.
    »Kannst du mich hören?«, krächzte Simon, als er mit dem Rad wieder nach unten fiel. Regelmäßig wie die Flut am Abend rauschte ihm das Blut in den Kopf.
    »Ja«, zischte Guthwulf. »Aber sprich nicht so laut. Ich habe andere hier gehört, und ich

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