Der Engelsturm
»Hier?«
An ihr vorbei hasteten die Unterirdischen, um die Tür wieder zu verschließen.
24
Das graue Land
er farblose Nebel war überall, ohne Boden, Decke oder sonstige erkennbare Grenze. Simon schwamm mitten im Nichts. Es gab keine Bewegung, kein Geräusch.
»Hilfe!«, schrie er, oder versuchte es wenigstens, aber seine Stimme schien seinen Kopf gar nicht zu verlassen. Leleth war fort, ihre letzte Berührung seiner Gedanken schon kühl und fern. »Hilfe!«
Doch wenn jemand den leeren, grauen Raum mit ihm teilte, dann antwortete er nicht.
Und was ist, wenn es hier wirklich jemanden – oder etwas – gibt? , dachte Simon plötzlich und erinnerte sich an das, was man ihm über die Straße der Träume erzählt hatte. Es könnte etwas sein, dem ich lieber nicht begegnen möchte. Vielleicht war das hier ja nicht die Straße der Träume, aber Leleth hatte gesagt, sie sei nicht weit entfernt. Binabiks Meister Ookequk war dort auf etwas Entsetzliches gestoßen – und es hatte ihn getötet.
Aber wäre das schlimmer, als auf ewig hier herumzuschweben wie ein Geist? Bald wird kaum noch etwas von mir übrig sein, das sich zu retten lohnt.
Stunden vergingen, ohne dass sich etwas änderte. Es konnten auch Tage sein oder Wochen. Hier gab es keine Zeit. Das Nichts war allumfassend.
Nach einer langen Leere fügten sich seine schwachen und zerstreuten Gedanken wieder zusammen.
Leleth hatte mich in meinen Körper zurückstoßen wollen, wieder zurück ins Leben. Vielleicht kann ich das auch selber.
Er versuchte sich zu erinnern, was für ein Gefühl es gewesen war, in einem lebenden Körper zu wohnen, aber zunächst stürzten nurunzusammenhängende, verwirrende Bilder auf ihn ein – im Fackelschein grinsende Gräber, flüsternde Nornen auf dem Berggipfel über dem Hasutal.
Nach und nach rief er sich ein Bild des großen Rades vor sein geistiges Auge, eines Rades, auf dem ein nackter, gefesselter Körper hing.
Ich! , jubelte er. Ich, Simon! Ich lebe noch!
Die Gestalt auf dem Radkranz war nur undeutlich zu erkennen; sie ähnelte einer grobgeschnitzten Darstellung des Usires am Baum. Aber Simon spürte die unsichtbare Verbindung mit ihr. Er wollte der Gestalt ein Gesicht geben, konnte sich aber nicht mehr an seine eigenen Züge erinnern.
Ich habe mich verloren. Die Erkenntnis legte sich über ihn wie eine Eisdecke. Ich weiß nicht mehr, wie ich aussehe. Ich habe kein Gesicht mehr!
Die Gestalt auf dem Rad und sogar das Rad selbst verschwommen und lösten sich auf.
Nein! Er klammerte sich daran fest und zwang den kreisförmigen Schatten zum Stehenbleiben. Nein! Ich bin wirklich, ich lebe. Mein Name ist Simon!
Mit aller Macht versuchte er sich zu erinnern, wie er in Jirikis Spiegel ausgesehen hatte. Zuerst freilich musste er sich den Spiegel selbst ins Gedächtnis zurückrufen – wie kühl er sich unter seinen Fingern angefühlt hatte, wie fein und glatt die Schnitzereien des Rahmens gewesen waren. Bei Simons Berührung hatte er sich erwärmt, als lebte er.
Plötzlich fiel ihm auch sein eigenes, im Glas der Sithi sich spiegelndes Gesicht wieder ein. Das rote Haar war dicht und zerzaust, durchzogen von einem weißen Streifen. Vom Auge bis zum Kiefer lief das Mal des Drachenblutes. Die Augen enthüllten nicht alles, was hinter ihnen vorging. Es war kein Junge mehr, der ihm aus Jirikis Spiegel entgegenblickte, sondern ein hagerer junger Mann. Er begriff, dass es sein eigenes Gesicht war, das er wiedergefunden hatte.
Er sammelte seinen Willen und zwang der Schattengestalt auf dem Rad die eigenen Züge auf. Als die Maske seines Gesichtes auf dem vagen Kopf immer deutlicher hervortrat, war auch alles andereschärfer zu sehen. Aus dem nebelhaften grauen Nichts wuchs die Schmiedehöhle, trübe und geisterhaft, aber doch fraglos ein wirklicher Ort, nur durch eine geringe, nicht bestimmbare Entfernung von Simon getrennt. Hoffnung strömte in sein Herz zurück.
Doch sosehr er sich anstrengte, er kam nicht weiter. Verzweifelt sehnte er sich nach der Rückkehr – sogar auf das Rad –, aber es blieb unerreichbar. Je mehr er strampelte, desto größer wurde der Abstand zwischen dem Simon, der in der Traumwelt schwebte, und seinem leeren, schlummernden Körper.
Ich komme nicht hin. Er begriff, dass er besiegt war. Es geht nicht.
Mit dieser Erkenntnis verblasste zugleich die Erscheinung des Rades und verschwand. Auch die Geisterschmiede löste sich auf, und Simon trieb von neuem durch die farblose Leere.
Er nahm alle Kraft
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