Der Engelsturm
ganzes Entsetzen, als sie losließ und sich ins dunkle Unbekannte gleiten ließ.
»Maegwin! Tut es nicht!«
Aber sie war schon fort. Das Glühen, das sie umgeben hatte, war jetzt ein Teil von ihm. Sie hatte ihm das Einzige gegeben, das sie noch besaß – die tapferste, schrecklichste Gabe von allen.
Simon kämpfte wie niemals zuvor. Maegwins Opfer durfte nicht vergebens sein. Obwohl die lebende Welt so nah war, dass er sie spüren konnte, trennte ihn noch immer eine unerklärliche Wand von dem Körper, den er zurückgelassen hatte. Aber er durfte jetzt nicht versagen. Mit Hilfe der Kraft, die Maegwin ihm geschenkt hatte, zwang er sich näher, öffnete sich der Qual, der Angst, sogar der Hilflosigkeit, die ihn erwarteten. Er konnte nur dann etwas tun, wenn er die Wirklichkeit auf sich nahm. Er stieß vor und fühlte, wie die Wand zersplitterte. Wieder stieß er vor.
Aus trübem Grau wurde Schwarz, dann Rot. Als er aus dem Niemandsland wieder in die wachende Welt trat, schrie Simon laut auf. Es tat weh. Alles tat weh. Er wurde wiedergeboren in eine Welt der Qual.
Der Schrei, der sich seiner verdorrten Kehle und den rissigen Lippen entrang, wollte kein Ende nehmen. Seine Hand brannte in sengender Pein.
»Still!« Die furchtsame Stimme klang ganz nah. »Ich versuche gerade …«
Simon hing am Rad. Sein Kopf hämmerte, Holzsplitter zerkratzten seine Haut. Aber was war mit seiner Hand? Sie fühlte sich an, als wollte man sie ihm mit glühenden Zangen aus dem Gelenk reißen.
Sie bewegte sich! Er konnte den Arm bewegen!
Wieder ein zittriges Flüstern. »Die Stimmen sagen, ich muss mich beeilen. Sie werden bald kommen.«
Simons linker Arm war frei. Als er ihn beugen wollte, traf ein feuriger Blitz aus purer Qual seine Schulter. Aber der Arm bewegte sich. Simon öffnete die Augen und schaute benommen umher.
Vor ihm hing kopfüber eine Gestalt. Auch die Schmiedehalle dahinterstand auf dem Kopf. Die dunkle Gestalt sägte mit etwas, in dem sich das Licht einer Fackel von der anderen Seite der Höhle spiegelte, an seinem rechten Arm. Wer war das? Was wollte er? Simon konnte seine verstümmelten Gedanken nicht zur Ordnung zwingen.
Jetzt kroch auch in seine rechte Hand pochender, stechender Schmerz. Was geschah mit ihm?
»Du hast mir Essen gebracht. Ich … ich konnte dich nicht im Stich lassen. Aber die Stimmen sagen, ich muss mich beeilen!«
Mit zwei Armen im Feuer fiel ihm das Denken schwer, aber nach und nach verstand Simon. Er hing kopfüber am Rad. Jemand schnitt ihn los. Jemand …
»Guthwulf?«
»Bald werden sie es merken. Sie werden kommen. Rühr dich nicht – ich kann nicht sehen und habe Angst, dich zu schneiden.« Der blinde Graf sägte aus Leibeskräften.
Simon biss die Zähne zusammen, als das Blut in seine Adern zurückströmte. Er wollte nicht wieder schreien. Nie hätte er solche Pein für möglich gehalten.
Frei. Es lohnt sich. Ich werde frei sein … Er schloss die Augen und presste die Kiefer aufeinander. Sein zweiter Arm war losgeschnitten, beide baumelten neben dem Kopf herunter. Die veränderte Haltung war eine einzige Marter.
Undeutlich hörte er, wie Guthwulf ein paar Schritte im Wasser watete, dann fühlte er das rhythmische Sägen an seinem Knöchel.
Nur noch wenige Augenblicke, dachte Simon und bemühte sich verzweifelt, keinen Laut von sich zu geben. Er musste an die Worte der Kammerfrauen denken, wenn er als Kind über eine kleine Verletzung weinte: »Morgen ist alles wieder gut, dann bist du glücklich.«
Ein Knöchel war frei, und der Schmerz war genauso groß wie derjenige in seinem anderen, immer noch festgebundenen Bein. Simon drehte den Kopf zur Seite und schlug die Zähne in seine eigene Schulter. Alles, nur kein Geräusch, das Inch oder seine Schergen herbeirufen könnte.
»Fast …«, sagte Guthwulf heiser. Eine letzte, langsame Bewegung, das Gefühl abzugleiten, dann ein jäher Sturz. Völlig betäubt, drohteer im kalten Wasser zu ertrinken. Hilflos schlug er um sich; er konnte seine Glieder nicht fühlen und wusste nicht einmal, wo oben war.
Etwas packte ihn beim Haar und riss ihn hoch. Gleich darauf legte sich eine zweite Hand unter dem Kinn um seinen Hals, als wollte sie ihn würgen. Simons Mund tauchte aus dem Wasser, und er holte tief und keuchend Atem. Einen Augenblick wurde sein Gesicht gegen Guthwulfs mageren Bauch gepresst, während sein Retter sich bemühte, ihn besser zu fassen zu bekommen. Dann wurde er hinaufgezogen und am Rand der Rinne fallen
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