Der Engelsturm
sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Es gibt Menschen, die ich geliebt habe, und ich weiß jetzt,dass viele von ihnen noch unter den Lebenden weilen. Vor allem einer.« Sie sammelte sich.
»Ich habe ihn geliebt, so sehr geliebt, dass ich krank davon wurde. Und vielleicht hatte auch er mich ein wenig gern, und mein törichter Stolz hinderte mich daran, es zu sehen … aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.« Ihre Stimme wurde immer brüchiger. »Nein, das ist nicht wahr. Nichts auf der weiten Welt ist wichtiger für mich als Liebe – aber es soll nicht sein. Selbst wenn ich es könnte, würde ich nicht zurückgehen.«
Ihr Schmerz war so groß, dass Simon keine Worte fand. Er begriff, dass es Wunden gab, die man nicht heilen konnte, Leid, das sich nicht trösten ließ.
»Aber ich glaube, dass Ihr zurückkehren müsst, Simon. Mit Euch ist es anders. Und ich bin froh darüber, dass ich das weiß und dass es noch Menschen gibt, die in dieser Welt leben möchten. Ich wünsche keinem, dass ihm zumute ist wie mir. Geht zurück, Simon. Rettet die, die Ihr liebt – und auch die, die ich liebe.«
»Aber ich kann nicht.« Endlich wich sein ohnmächtiger Zorn der Verzweiflung. Es gab keinen Weg. Er und Maegwin würden hier bis in alle Ewigkeit die Einzelheiten ihres Lebens erörtern. »Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt gesagt habe, aber es geht nicht. Ich habe es versucht. Ich bin nicht stark genug, in meinen Körper zurückzukehren.«
»Versucht es. Versucht es noch einmal.«
»Glaubt Ihr nicht, das hätte ich schon? Glaubt Ihr nicht, ich hätte mir die größte Mühe gegeben? Ich komme nicht an ihn heran!«
»Wenn das so ist, haben wir noch die ganze Ewigkeit vor uns. Es kann also nichts schaden, wenn Ihr es weiter versucht.« Simon, der wusste, dass er sich schon bis zum Äußersten angestrengt und keinen Erfolg gehabt hatte, schluckte ein paar bittere Worte hinunter. Aber sie hatte recht. Wenn er seinen Freunden helfen wollte, wenn es auch nur eine winzige Hoffnung gab, Vergeltung für das zu üben, was man ihm und Maegwin und Tausenden anderer angetan hatte, dann musste er es weiter versuchen, so aussichtslos es auch scheinen mochte. Er bemühte sich, alle Ängsten und Ablenkungen aus seinem Kopf zu verbannen. Als er sich bis zu einem gewissenGrade beruhigt hatte, stellte er sich das Wasserrad vor. Er zwang es, zu erscheinen, und es begann, sich als riesiger, dunstiger Kreis über dem Geistertal zu drehen. Dann rief er das Bild seines eigenen Gesichtes herbei und achtete diesmal auch besonders auf das, was hinter den Zügen lag: die Träume, Gedanken und Erinnerungen, die ihn ausmachten. Er versuchte, der ans Rad gefesselten Schattengestalt Leben einzuflößen, sein Leben. Doch schon jetzt merkte er, dass seine Kräfte nachließen.
»Könnt Ihr mir helfen, Maegwin?« Während das Rad deutlicher geworden war, verblasste ihre Gestalt, bis sie kaum mehr war als ein unbestimmtes Glühen. »Ich schaffe es nicht.«
»Strengt Euch an.«
Simon kämpfte darum, das Rad vor seinem geistigen Auge festzuhalten, und versuchte, den Schmerz, das Entsetzen und die unendliche Einsamkeit, die dazugehörten, herbeizurufen. Fast spürte er das rauhe Holz, das ihm den Rücken aufschürfte, hörte das Plätschern des Wassers und das Ächzen und Klirren der großen Ketten. Dann begann es, ihm wieder zu entgleiten. Das Rad verblasste und wellte sich wie ein Spiegelbild im Teich. Es war schon ganz nah gewesen, doch jetzt entfernte es sich wieder …
»Hier, Simon.«
Und plötzlich umgab ihn auf allen Seiten Maegwins Gegenwart. Sie durchdrang sein Inneres. Das Glühen, das sie während ihres Gesprächs im Arm gehalten hatte, ging auf ihn über und wärmte ihn wie die Sonne. »Ich glaube, darum wurde ich hierhergebracht, darauf habe ich gewartet. Für mich ist die Zeit zum Weitergehen gekommen – aber Ihr sollt zurück.«
Ihre Stärke erfüllte ihn. Das Rad, die Schmiedehalle, der bohrende Schmerz in seinem Körper, alles, was für ihn Leben bedeutete, waren auf einmal greifbar nah.
Nur Maegwin war weit fort. Ihre nächsten Worte kamen aus großer Ferne, leise und rasch verhallend.
»Ich gehe weiter, Simon. Nehmt, was ich Euch gebe, und nutzt es gut. Ich brauche mein Leben nicht mehr. Tut, was Ihr müsst. Ich bete, dass es genug sein wird. Wenn Ihr Eolair begegnet … nein, ich will es ihm selbst sagen. Eines Tages … an einem anderen Ort.«
Die tapferen Worte konnten ihre Furcht nicht verhehlen. Simon fühlte ihr
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