Der Engelsturm
beherrschen zu können, und er fürchtete, dass sie verschwinden würde, wenn ihr Kummer sie überwältigte.
Maegwin schillerte ganz leicht, und ein Wind, den man nicht spüren konnte, zerzauste ihr Wolkenhaar. »Es hatte Gedanken, die ich nicht in Worte kleiden kann. Bilder, für die ich keine Erklärungweiß. Sehr stark, sehr hell, als wären sie dem Herzen der Flamme nah, die diesem Geist Leben verleiht.«
»Was für Bilder?« Wenn das Feuerwesen, das Maegwin schilderte, das war, was er vermutete, konnte jeder Hinweis dazu beitragen, ein unendliches Zeitalter der Finsternis abzuwenden. Vorausgesetzt, dass ich überhaupt zurückkehren kann, erinnerte er sich selbst. Dass ich von hier wegkomme. Er verdrängte den beunruhigenden Gedanken. Von Binabik hatte er gelernt, immer zuerst das Nächstliegende zu tun. »Du kannst nicht mit zwei Händen drei Fische fangen«, hatte der kleine Mann oft gesagt.
Maegwin zögerte. Dann wurde das Glühen stärker und breitete sich aus. »Ich will versuchen, es Euch zu zeigen.«
In dem Tal aus Glas und Schatten vor ihnen bewegte sich etwas. Es war ein neues Licht. Aber während das Leuchten, das Maegwin an ihrer Brust hielt, weich und warm war, brannte das andere grell und wild. Simon sah, wie ringsum vier weitere strahlende Punkte aufsprangen. Gleich darauf wurde das mittlere Licht zur lodernden Flamme, die immer höher emporstieg. Doch noch im Wachsen änderte sie ihre Farbe und wurde heller und immer heller, bis sie weiß wie Reif war. Die flackernden Feuerzungen erstarrten, noch während sie nach oben ausgriffen, mitten in der Bewegung. Simon konnte die Augen nicht abwenden. Aus dem viereckigen Flammenwall ragte ein großer, weißer Baum auf, schön und unirdisch. Es war das Bild, das ihn schon so lange verfolgte. Der weiße Baum. Der lodernde Turm.
»Es ist der Engelsturm«, murmelte er.
»Auf ihn richten sich alle Gedanken des Geistes in Naglimund.«
Maegwins Stimme klang plötzlich müde, als hätte es ihre ganze Kraft erfordert, Simon den Baum zu zeigen. »Sein Sehnen brennt in ihm, wie die Flammen um den Baum brennen.« Die Erscheinung schwankte und löste sich auf. Nur die verschwommene, körperlose Landschaft blieb zurück.
Der Engelsturm, dachte Simon. Dort wird etwas geschehen.
»Noch etwas.« Maegwins Stimme wurde merklich schwächer. »Irgendwie dachte das Wesen an Naglimund als das … Vierte Haus. Bedeutet das etwas?«
Simon erinnerte sich undeutlich, etwas Ähnliches von den Feuertänzern auf dem Berggipfel im Hasutal gehört zu haben, aber er konnte im Moment wenig damit anfangen. Der Gedanke an den Engelsturm füllte ihn vollständig aus. Seit fast einem Jahr verfolgten ihn bereits der Turm und sein Doppelgänger, der Weiße Baum. Der Turm war das letzte von den Sithi errichtete Bauwerk auf dem Hochhorst. Dort hatte Ineluki die furchtbaren Worte gesprochen, die tausend sterbliche Krieger getötet und ihn selbst für immer aus der Welt der Lebendigen von Osten Ard verbannt hatten. Wenn der Sturmkönig nach einer letzten, furchtbaren Rache strebte, vielleicht dadurch, dass er seinem menschlichen Verbündeten Elias irgendeine grausige Macht verlieh – welcher Ort wäre passender dafür als der Turm?
Ohnmächtige Wut überkam ihn. Das alles zu wissen, endlich eine Vorstellung vom Plan des Feindes zu haben und dann nicht das Geringste tun zu können – darüber konnte man wirklich den Verstand verlieren. Er wurde dringender gebraucht als je zuvor, aber statt handeln zu können, war er dazu verdammt, als heimatloser Geist umherzuirren, während sein Körper nutzlos und unbewohnt am Rad hing.
»Maegwin, ich muss einen Weg finden, von hier fortzukommen. Ich muss zurück, ganz gleich, wie. Alles, wofür wir beide gekämpft haben, befindet sich dort. Der weiße Baum ist der Engelsturm auf dem Hochhorst. Ich muss zurück!«
Es dauerte lange, bis die Schattengestalt neben ihm antwortete. »Ihr wollt zurück – in die Welt der Schmerzen?«
Simon dachte an alles, was schon geschehen war und noch geschehen konnte, an seinen gefolterten Leib auf dem Rad und die unerträgliche Pein, vor der er hierhergeflohen war, aber er blieb bei seinem Entschluss. »Ädon errette mich – es muss sein. Möchtet Ihr nicht auch zurückkehren?«
»Nein.« Maegwins trüber Umriss schauderte. »Nein. Ich bin zu schwach, Simon. Wenn mich nicht etwas hier festhielte, hätte ich längst losgelassen.« Es schien, als hole sie tief Atem, und als sie fortfuhr, bebte ihre Stimme, als sei
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