Der Engelsturm
auf den Ankömmling.
»Wer ist das?«
»Es ist der junge Jeremias«, antwortete Sangfugol, etwas verärgert über die Unterbrechung. »Verjagt wie wir, nehme ich an.«
»Tiamak!«, schrie Jeremias schon von weitem. »Kommt mit mir! Schnell!«
»Meine Güte!« Strangyeard wedelte mit den Händen. »Vielleicht haben sie etwas Wichtiges entdeckt?«
Tiamak stand schon. »Was ist?«
»Josua sagt, Ihr sollt Euch beeilen. Die Sitha ist krank.«
»Sollen wir mitgehen, Tiamak?«, fragte Strangyeard. »Nein, sicher wollt Ihr Euch nicht bedrängt fühlen. Und welche Hilfe oder welchen Trost hätte ich wohl für eine Sitha!«
Der Wranna lief schon bergab, mitten in den Wind. Als der Schnee unter seinen Füßen knirschte, war er wieder einmal dankbar für die von Sangfugol geborgten Stiefel und Hosen, auch wenn sie ihm beide zu groß waren.
An einem seltsamen Ort bin ich, dachte er verwundert, in einer seltsamen Zeit. Ein Marschmann watet durch den Schnee von Erkynland, um einer Sitha zu helfen! Es müssen Sie-die-wachen-und-gestalten sein, die zu viel Farnbier getrunken haben.
Man hatte Aditu in einen schnell errichteten Unterstand gelegt.Er bestand aus einer Abdeckplane für Schiffsfracht, die man über die unteren Äste eines Baumes auf einer Anhöhe unweit des Ufers gespannt hatte. Josua, Sludig und einige Soldaten standen, unter das niedrige Dach geduckt, unbeholfen um die Liegende herum. »Sludig hat sie gefunden«, erklärte der Prinz. »Ich fürchtete schon, sie wäre auf Spione meines Bruders gestoßen, aber es ist kein Zeichen von Gewalt an ihr, und Sludig sagt, er hätte keinerlei Spuren eines Kampfes gesehen. Es hat auch niemand etwas gehört, obwohl die Entfernung zum Ufer keine hundert Schritte beträgt.« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Es ist wie mit Leleth nach Geloës Tod. Sie schläft und will nicht aufwachen.«
Tiamak betrachtete das Gesicht der Sitha. Mit geschlossenen Augen wirkte sie fast menschlich. »Ich habe wenig für Leleth tun können und weiß nicht, welche Wirkung meine Kräuter auf eine Unsterbliche haben. Mir ist nicht recht klar, wie ich Aditu helfen kann.«
Josua bewegte ratlos die Hände. »Wenigstens sorgt dafür, dass sie es bequem hat.«
»Ist Euch irgendetwas aufgefallen, das als Ursache in Frage käme?«, fragte Tiamak Sludig.
Der Rimmersmann schüttelte heftig den Kopf. »Nichts. Ich fand sie so, wie Ihr sie seht. Sie lag auf der Erde, und es war niemand in der Nähe.«
Josua räusperte sich. »Ich muss wieder zurück und das Ausschiffen überwachen. Wenn also nichts Besonderes eintritt …« Er wirkte so zerstreut, als reiche selbst dieser unerfreuliche Vorfall nicht aus, seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln.
Der Prinz war immer etwas abwesend, aber seit ihrer Landung vor einem Tag war es schlimmer geworden. Nun ja, dachte Tiamak, wenn man sich überlegte, was ihnen bevorstand, hatte der Prinz wohl das Recht, ein wenig zerfahren zu sein.
»Ich werde bei ihr bleiben, Prinz Josua.« Er bückte sich und berührte die Wange der Sitha. Ihre Haut war kühl, aber er wusste nicht, ob das die Regel war oder nicht.
»Gut. Vielen Dank, Tiamak.« Josua zögerte noch kurz und verließ dann geduckt den Unterstand. Sludig und die Übrigen folgten ihm.
Tiamak hockte sich neben Aditu. Sie trug die Kleidung der Sterblichen, helle Hosen und eine Lederjacke, nichts davon dick genug für die augenblickliche Witterung – aber, erinnerte sich Tiamak, Sithi kümmerten sich nicht viel um das Wetter. Sie atmete flach. Eine Hand war zur Faust geballt. Irgendetwas an der Art, wie sie die langen Finger krümmte, erregte Tiamaks Aufmerksamkeit. Er öffnete ihre Hand, die erstaunlich fest zusammengepresst war.
In ihre Handfläche schmiegte sich ein kleiner, runder Spiegel, kaum größer als ein Espenblatt. Sein Rahmen war ein schmaler Ring, anscheinend aus glänzendem, mit winzigen Schnitzereien verziertem Knochen. Tiamak nahm ihn und legte ihn vorsichtig in die eigene Hand. Der Spiegel war schwer für seine Größe und eigenartig warm.
Ein Kribbeln und Prickeln ging durch seine Finger. Er hielt den Spiegel schräg, um sein Gesicht darin zu betrachten, aber als er den Winkel änderte, fand er keine Spur seiner eigenen Züge, sondern nur brodelnde Schwärze. Er führte ihn näher an sein Gesicht. Das Prickeln wurde stärker.
Ein Schlag traf seinen Arm. Der Spiegel fiel auf den feuchten Boden.
»Lasst ihn liegen.« Aditu zog die Hand zurück und sank wieder auf ihr Lager, die langen Finger
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