Der Engelsturm
Aditu. »Aber die Antwort auf Eure Frage lautet, dass es so viele verschiedene Erscheinungsformen gibt wie Zida’ya, ohne Zweifel ganz wie bei Euch. Manche ziehen sich immer weiter von den anderen zurück; sie sprechen mit niemandem mehr und leben nur in ihren eigenen Gedanken. Andere entwickeln eine Neigung zu Dingen, die ihre Umgebung belanglos findet. Und manche brüten über der Vergangenheit, über Kränkungen und Verletzungen, die sie erlitten, und Möglichkeiten, die sie verpasst haben. Die Älteste von allen, die Ihr die Nornenkönigin nennt, gehört zu diesen Letzteren. Einst war sie berühmt für ihre Weisheit und Schönheit, ihre unvergleichliche Anmut. Aber irgendetwas in ihr konnte sich nicht entfalten. Es blieb verkrüppelt, wuchs nach innen und verwandelte sich in Bösartigkeit. Und als die Jahre, die keiner mehr zählen kann, verstrichen, verkehrte sich alles an ihr, das einmal bewunderungswürdig war, ins Gegenteil.« Aditu war auf einmal auf eine Weise ernst geworden, die Isgrimnur noch nie an ihr bemerkt hatte. »Vielleicht ist das der größte Kummer unseres Volkes, dass am Untergang der Welt zwei Sithi schuld sein könnten, die einst zu den Größten der Gartengeborenen zählten.«
»Zwei?« Isgrimnur versuchte, die Geschichten, die er bisher über die silbern maskierte Königin von Eis und Finsternis gehört hatte, mit Aditus Beschreibung in Einklang zu bringen.
»Ineluki … der Sturmkönig.« Sie drehte sich um und blickte auf den Kynslagh hinaus, als könne sie drüben hinter den dunklen Wolken das alte Asu’a aufragen sehen.
»Er brannte am hellsten von allen Flammen, die je in diesem Land entzündet wurden. Wären die Sterblichen nicht gekommen – wären Eure eigenen Vorfahren nicht gekommen, Herzog Isgrimnur –, um unser großes Haus mit Äxten und Feuer anzugreifen, so hätte er uns vielleicht aus dem Schatten der Verbannung ins Licht der lebenden Welt zurückgeführt. Das war sein Traum. Aber jeder große Traum kann in Wahnsinn umschlagen.« Sie schwieg eine Weile. »Vielleicht müssen wir alle lernen, in der Verbannung zu leben, Isgrimnur. Vielleicht müssen wir uns alle an kleinere Träume gewöhnen.«
Isgrimnur antwortete nicht. So standen sie eine Weile nebeneinanderim Wind, stumm, aber nicht unbehaglich, bis der Herzog sich wieder in die Wärme der Kajüten zurückzog.
Als sie den kalten Luftzug spürte, sah Herzogin Gutrun erschrocken auf. »Vara! Seid Ihr von Sinnen? Nehmt die Kinder vom Fenster weg!«
Die Thrithingfrau, in jedem Arm ein Kind, rührte sich nicht. Unter dem offenen Fenster lag die Stadt Nabban, riesengroß und doch merkwürdig eng; ihre berühmten Hügel ließen die Wohnhäuser, Straßen und öffentlichen Gebäude fast übereinandergeschichtet erscheinen. »Luft schadet nicht. Im Grasland leben wir fast nur im Freien.«
»Unfug«, versetzte Gutrun barsch. »Vergesst nicht, dass ich dort gewesen bin, Vara. Diese Wagen sind so gut wie Häuser.«
»Aber wir schlafen nur darin. Alles andere – essen, singen, lieben – findet unter dem Himmel statt.«
»Und die Männer zerschneiden sich mit dem Messer die Wangen. Wollt Ihr das etwa dem armen kleinen Deornoth antun?« Bei dem bloßen Gedanken sträubten sich kampflustig ihre Nackenhaare.
Die Thrithingfrau drehte sich um und warf ihrer Gefährtin einen vergnügten Blick zu. »Ihr findet nicht, dass der Junge Narben braucht?« Sie betrachtete das schlafende Gesicht des männlichen Kindes und legte wie überlegend einen Finger auf seine Wange. »Ach, wie hübsch sie doch anzusehen sind …« Sie sah Gutrun verstohlen von der Seite an und brach dann über das Entsetzen der Rimmersfrau in lautes Gelächter aus.
»Gutrun! Ihr denkt, ich meinte es ernst!«
»So etwas dürft Ihr nicht einmal sagen, Vara. Und bringt die armen Kinder vom Fenster weg.«
»Ich zeige ihnen das Meer, auf dem ihr Vater ist. Aber Ihr, Gutrun, Ihr seid heute so traurig und bitter. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
»Und warum sollte ich nicht bitter sein?« Die Herzogin sank in ihren Sessel zurück und nahm die Näharbeit zur Hand, drehte aber nur den Stoff in den Händen. »Wir befinden uns im Krieg. Menschensterben. Erst vor einer Woche haben wir die kleine Leleth begraben.«
»Verzeiht mir«, bat Vara. »Ich wollte nicht herzlos sein. Ihr habt sehr an ihr gehangen.«
»Sie war noch ein Kind. Sie hat furchtbar gelitten. Gott schenke ihr Frieden.«
»Sie schien zum Schluss keine Schmerzen zu haben. Das ist wenigstens ein kleiner
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