Der Engelsturm
über den Augen. Ihre Stimme klang dünn und mühsam. »Fasst ihn nicht an, Tiamak.«
»Ihr seid wach?« Er betrachtete den im Gras liegenden Spiegel, fühlte aber wenig Lust, Aditus Warnung in den Wind zu schlagen.
»Ja, jetzt. Hat man Euch geschickt, mich zu versorgen? Mich zu heilen?«
»Zumindest, um über Euch zu wachen.« Er rückte ein Stückchen näher. »Fühlt Ihr Euch wohl? Kann ich Euch etwas bringen?«.
»Wasser. Ein wenig geschmolzener Schnee würde mir guttun.«
Tiamak kroch unter der schweren Plane hervor, sammelte zwei Handvoll Schnee auf und brachte ihn ihr. »Ich habe leider weder Becher noch Schale bei mir.«
»Das ist unwichtig.« Sie setzte sich nicht ohne Anstrengung auf und nahm den Schnee in den hohlen Händen entgegen. Etwas davon schob sie in den Mund, den Rest verrieb sie auf dem Gesicht. »Wo ist der Spiegel?«
Tiamak zeigte mit dem Finger darauf. Aditu bückte sich und hob ihn aus dem Gras; gleich darauf war ihre Hand wieder leer. Tiamak hatte nicht gesehen, wohin sie den Spiegel gesteckt hatte. »Was ist Euch zugestoßen?«, fragte er. »Wisst Ihr es überhaupt?«
»Ja und nein.« Sie drückte die Hände gegen ihr Gesicht. »Ihr habt von den Zeugen gehört?«
»Ein wenig.«
»Die Straße der Träume, der Ort, an den wir Zida’ya gehen, wenn wir von Zeugen wie dem Spiegel, den Ihr gerade in der Hand hattet, Gebrauch machen, ist uns seit dem Mord an Amerasu Schiffgeborener im Yásira fast gänzlich verschlossen. Darum konnte ich mich weder mit Jiriki noch mit meiner Mutter oder anderen Angehörigen meines Volkes beraten, seit ich sie verließ. Aber ich habe über die Dinge nachgedacht, nach denen Ihr und Strangyeard mich gefragt habt – obwohl ich, wie ich Euch gesagt habe, auch keine Antworten darauf weiß. Ich bin aber der Meinung, dass Eure Fragen wichtig sein könnten. Und weil wir meinem Volk jetzt näher sind, hoffte ich, es vielleicht wissen lassen zu können, dass ich mit jemandem sprechen muss.«
»Und es ist Euch nicht gelungen?«
»Schlimmer als das. Es ist möglich, dass ich eine Dummheit begangen habe. Ich habe die Veränderungen auf der Traumstraße unterschätzt.«
Tiamak, Träger der Schriftrolle und äußerst wissbegierig, wollte sich schon niederlassen, um ihrer Geschichte mit größter Hingabe zu lauschen, als ihm seine offiziellen Pflichten wieder einfielen. »Gibt es vielleicht noch etwas, das ich Euch holen könnte, Aditu, Herrin?«
Sie lächelte, erklärte aber nicht, worüber. »Nein. Es geht mir gut.«
»Dann, bitte, erläutert mir, was Ihr mit Euren Worten über die Straße der Träume gemeint habt.«
»Ich will Euch sagen, was ich kann – aber es gibt einen Grund, weshalb ich Eure Frage vorhin mit ›ja und nein‹ beantwortet habe. Ich bin eben nicht ganz sicher, was geschehen ist. Die Straße der Träume war verworrener, als ich sie je gesehen habe; doch damithatte ich gerechnet. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mich dort etwas Schreckliches erwarten würde.«
»Was meint Ihr damit?«, fragte Tiamak unbehaglich. »Ein Dämon? Einer unserer … Feinde?«
»Nein, so war es nicht.« Aditus Bernsteinaugen verengten sich beim Nachdenken. »Es war … ein Bauwerk … etwas sehr Mächtiges und sehr Fremdartiges, das man dort … errichtet hatte; es gibt kein besseres Wort dafür. Es war etwas auf seine Weise ebenso Riesiges und Bedrohliches wie die Burg, die Josua hier in der wachenden Welt angreifen will.«
»Eine Burg?«
»Nichts so Einfaches, nichts, das den Dingen, die man kennt, so ähnlich wäre. Es war ein Bauwerk der Kunst, glaube ich – ein Bauwerk mit eigenem Verstand, nicht wie die Schattengebilde, die auf den Anderen Pfaden manchmal plötzlich von selbst entstehen. Es war ein Mahlstrom aus Rauch und Funken und schwarzen Kräften, eine Schöpfung von ungeheurer Macht, an der man lange gebaut haben muss. Nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen oder davon gehört. Es riss mich an sich, wie ein Wirbelwind ein Blatt ansaugt, und ich konnte mich nur mit knapper Not befreien.« Wieder presste sie die Hände an die Schläfen. »Ich glaube, ich habe viel Glück gehabt.«
»Bedeutet es eine Gefahr für uns? Und falls ja, fällt Euch etwas ein, das dabei helfen könnte, das Rätsel zu lösen?«
Er erinnerte sich an seine Gedanken über seltsame Orte – jetzt befand er sich auf einem Grund und Boden, auf dem er sich überhaupt nicht mehr auskannte.
»Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass eine so außergewöhnliche
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