Der Engelsturm
Nornen in Sturmspitze – niederzumetzeln, würde das doch nichtsändern. Es ist zu spät, noch etwas zu unternehmen. Es war die ganze Zeit über zu spät. Die Welt, die grünen Felder von Osten Ard, seine Menschen … sie sind zum Untergang verurteilt. Und das wusste ich schon, bevor ich Euch begegnete.« Er sah sie flehend an. »Natürlich bin ich verbittert, Miriamel. Natürlich bin ich dem Wahnsinn nah. Weil ich ganz sicher weiß, dass es keine Hoffnung gibt.«
Simon erwachte aus wolkigen, verworrenen Träumen. Es war stockfinster, und neben ihm stöhnte jemand. Jeder einzelne Muskel seines Körpers schmerzte, und Handgelenke und Knöchel konnte er kaum bewegen. Lange Zeit war er überzeugt, gefangen und gefesselt in einer schwarzen Zelle zu liegen, bis ihm endlich einfiel, wo er sich befand.
»Guthwulf?«, krächzte er. Das Stöhnen ging unverändert weiter.
Simon rollte sich auf den Bauch und kroch darauf zu. Als seine geschwollenen Finger auf ein Hindernis stießen, hielt er an und tastete sich ungeschickt vor, bis er das Gesicht des Grafen mit dem struppigen Bart berührte. Der Blinde war glühendheiß von Fieber.
»Graf Guthwulf, ich bin es, Simon. Ihr habt mich vom Rad gerettet.«
»Ihre Heimat brennt!« Guthwulf war außer sich vor Entsetzen. »Sie können nicht davonlaufen – vor den Toren stehen Fremde mit schwarzem Eisen!«
»Habt Ihr hier Wasser? Etwas zu essen?«
Er fühlte, wie der Blinde sich aufzurichten versuchte. »Wer ist dort? Ihr könnt es mir nicht wegnehmen! Es singt für mich. Für mich!« Guthwulf griff nach etwas, und Simon spürte eine kalte Metallkante, die schmerzhaft über seinen Unterarm strich. Fluchend hob er den Arm an den Mund und schmeckte Blut.
Hellnagel. Es war kaum zu glauben. Dieser vom Fieber gequälte Blinde hat Hellnagel.
Einen Moment erwog er, es Guthwulf einfach aus der geschwächten Hand zu nehmen. Was bedeutete schließlich die Not dieses Verrücktengegen das Leid ganzer Völker! Aber noch unangenehmer als die Vorstellung, einem kranken Mann, der ihm noch dazu das Leben gerettet hatte, das Schwert zu rauben, war die Tatsache, dass Simon ohne Licht irgendwo in den Tunneln unter dem Hochhorst saß und niemals wieder herausfinden würde. Falls der blinde Graf nicht aus irgendeinem unbegreiflichen Grund über eine Fackel oder Laterne verfügte, würde Simon ohne Guthwulfs Kenntnisse dieses Labyrinths vermutlich auf ewig im Finstern umherirren. Und was hätte er dann von Hellnagel?
»Guthwulf, habt Ihr eine Fackel? Oder Feuerstein und Stahl?«
Der Graf murmelte schon wieder vor sich hin. Das wenige, das Simon davon verstand, nützte ihm nichts. Er wandte sich ab und begann tastend die Höhle zu untersuchen, das Gesicht schmerzverzerrt und bei jeder Bewegung laut stöhnend.
Guthwulfs Schlupfwinkel war klein, kaum ein Dutzend Schritte – wenn Simon aufrecht gegangen wäre – in beiden Richtungen. In den Felsritzen des Bodens wuchs etwas, das sich wie Moos anfühlte. Er riss etwas davon ab und roch daran. Anscheinend war es nicht die gleiche Pflanze wie die, die ihn in Asu’as zerstörten Hallen am Leben gehalten hatte. Er legte ein bisschen davon auf die Zunge und spuckte es wieder aus. Es schmeckte sogar noch widerlicher als das andere. Andererseits tat ihm der Magen so weh, dass er es, davon war er überzeugt, bald wieder versuchen würde.
Bis auf die verschiedenen Lumpen, die über den unebenen Boden verstreut lagen, schien Guthwulf kaum etwas zu besitzen. Simon fand ein Messer mit halb abgebrochener Klinge. Als er es in den Gürtel stecken wollte, merkte er plötzlich, dass er keinen Gürtel hatte – und auch kein einziges anderes Kleidungsstück.
Nackt und verirrt im Dunkeln. Es ist nichts mehr übrig von mir als mein nackter Körper.
Er hatte im Drachenblut gebadet und war doch er selbst geblieben. Er hatte Jao é-Tinukai’i gesehen, in einer großen Schlacht gekämpft, einen Kuss von einer Prinzessin bekommen – aber war trotzdem derselbe Küchenjunge geblieben. Jetzt hatte man ihm alles genommen, und doch hatte er immer noch sich selbst.
Simon lachte, ein trockener, heiserer Laut. War er nicht frei, jetzt,wo er so wenig besaß? Wenn er die nächsten Stunden überlebte, wäre das ein Triumph. Er war dem Rad entkommen. Was konnte man ihm denn noch antun?
Er legte das zerbrochene Messer an die Wand, damit er es wiederfand, und setzte seine Suche fort. Dabei stieß er auf mehrere Gegenstände, deren Zweck er nicht erraten konnte; merkwürdig
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