Der Engelsturm
und trottete zu den Unterirdischen hinüber.
»Warum seid Ihr damals fortgelaufen, Cadrach? Ich hatte Euch doch gesagt, dass mir die Sache mit Tiamaks Pergament … und alles andere … leid tat.«
Jetzt endlich sah der Mönch ihr in die Augen. Sein Blick war eigentümlich leer. »Ah, aber Ihr hattet ja recht, Miriamel. Ich bin ein Dieb, Lügner und Trunkenbold, und das seit vielen Jahren. Dass ich ein paarmal ehrlich gehandelt habe, ändert daran nichts.«
»Warum sagt Ihr immer so etwas?«, versetzte Miriamel empört.»Warum seid Ihr so versessen darauf, immer nur das Schlechteste in Euch zu sehen?«
Cadrachs Gesichtsausdruck bekam etwas fast Vorwurfsvolles. »Und warum besteht Ihr darauf, nur das Beste in mir zu sehen, Miriamel? Ihr glaubt, Ihr wüsstet alles über die Welt, aber schließlich und letztlich seid Ihr nur ein junges Mädchen, und Eure Vorstellungskraft davon, was für ein finsterer Ort die Welt wirklich ist, hat Grenzen.«
Getroffen wandte Miriamel sich ab und fing an, in ihrem Reisesack herumzuwühlen. Kaum war sie wieder ein paar Minuten mit Cadrach zusammen, verspürte sie auch schon den sehnlichen Wunsch, ihn zu erwürgen – suchte aber stattdessen nach etwas Essbarem für ihn.
Immerhin kann ich ihn genauso gut erst einmal aufpäppeln, bevor ich ihn umbringe.
Cadrach lehnte mit zurückgebogenem Kopf und geschlossenen Augen an der Höhlenwand, vollkommen erschöpft. Miriamel nutzte die Gelegenheit, ihn genauer anzusehen. Seit er sie im Grasland verlassen hatte, war er immer dünner geworden; das Gesicht hing in schlaffen Falten, weil der Haut die Stütze der früheren Fleischpolster fehlte. Selbst im rosigen Licht der Unterirdischen-Steine wirkte die Haut des Mönchs grau.
Binabik kam zurück. »Unser Sichersein dauert vielleicht nur kurz. Yis-fidri sagt, dass der Schutzzauber der Tür nicht mehr so stark sein wird wie zuvor, nachdem er einmal bezwungen wurde. Nicht alle Nornen sind Meister wie dein mönchischer Freund, aber einige könnten es doch sein. Und selbst wenn keiner von ihnen die Tür öffnen kann, ist es doch wenig wahrscheinlich, dass sie Pryrates widersteht.«
»Meister? Was für Meister?«
»Meister der Kunst – die solche, die nicht Träger der Schriftrolle sind, manchmal Zauberei nennen.«
»Cadrach hat gesagt, er könnte nicht mehr zaubern.« Binabik schüttelte verwundert den Kopf. »Miriamel, Padreic von Crannhyr war einst der vielleicht Geschickteste von allen, die in Osten Ard die Kunst übten – auch wenn das zum Teil daran lag, dass andere Schriftrollenträger,selbst der Größte unter ihnen, Morgenes, es vorzogen, nicht in ihre tiefsten Strömungen einzutauchen. Auch dünkt mich, dass Cadrach seine Fähigkeiten nicht verloren hat – wie sonst hätte er die Tür der Unterirdischen aufbrechen können?«
»Es ging alles zu schnell. Ich habe wohl gar nicht richtig nachgedacht.« Sie fühlte plötzlich neue Hoffnung. Vielleicht hatte das Schicksal einen Grund gehabt, den Mönch zu ihnen zu führen.
»Ich tat, was ich musste«, mischte Cadrach sich unvermittelt ein. Miriamel, die ihn für schlafend gehalten hatte, fuhr zusammen. »Die Weißfüchse hätten mich schon fast gehabt. Aber ich bin nicht, was ich einmal war, Troll. Die Kunst zu üben erfordert Disziplin und harte Arbeit … und inneren Frieden. Das alles liegt mir seit vielen Jahren fern.« Er ließ den Kopf an die Wand sinken. »Der Brunnen ist verdorrt. Ich habe nichts mehr zu geben. Nichts.«
Aber Miriamel bestand auf ihren Antworten. »Ihr habt mir immer noch nicht erklärt, warum Ihr mir gefolgt seid, Cadrach.«
Der Mönch öffnete die Augen. »Weil es nichts anderes für mich zu tun gibt. Weil die Welt keinen anderen Inhalt mehr für mich hat.« Er zögerte und warf dann einen zornigen Blick auf Binabik, als belausche der kleine Mann etwas, das zu hören er kein Recht hatte. Die Worte kamen nur langsam. »Weil … weil Ihr freundlich zu mir wart, Miriamel. Ich hatte vergessen, was das für ein Gefühl ist. Ich brachte es nicht über mich, Euch zu begleiten und mich den Fragen, den Blicken, dem Abscheu all dieser Leute auszusetzen – Herzog Isgrimnurs und der anderen –, aber ich konnte auch diese kleine Berührung mit dem Leben, dem Leben, wie es früher einmal war, nicht aufgeben. Ich konnte nicht loslassen.« Er hob beide Hände und rieb sich die Haut des Gesichts, um dann unglücklich zu lachen. »Ich bin wohl doch nicht so tot, wie ich glaubte.«
»Wart Ihr es dann, der Simon und mir im
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