Der Engelsturm
Naglimund, weil ich glaubte, an einem Ort, wo man sich Widerstand gegen Elias und seinen obersten Ratgeber geschworen hatte, am sichersten zu sein. Aber bald zeigte sich, dass auch Naglimund angegriffen und vernichtet werden würde. Darum nahm ich das Angebot der Herrin Vara an, Miriamel nach dem Süden zu begleiten.«
»Ihr sagt, Ihr wart nicht frei, weil Ihr wusstet, was Ihr wusstet«, bemerkte Miriamel langsam. »Aber Ihr habt dieses Wissen mit niemandem geteilt. Das ist von allem, was Ihr getan habt, Cadrach, vielleicht das Erbärmlichste. Die Angst vor Pryrates mag Euch zu Greueltaten gezwungen haben; aber frei von ihm zu sein und dennoch zu schweigen – während wir anderen uns den Kopf zerbrachen, kämpften, litten und starben …« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die ganze eisige Verachtung, die sie empfand, in ihre Worte zu legen. »Das kann ich nicht verzeihen.«
Der Mönch sah sie an, ohne ihrem Blick auszuweichen. »Nun kennt Ihr mich wirklich, Prinzessin Miriamel.«
Eine lange, stumme Pause trat ein, nur unterbrochen vom leisen Singsang der untereinander murmelnden Unterirdischen. Es war Binabik, der das Schweigen brach. »Wir haben nun genug von diesen Dingen gesprochen. Ich brauche Zeit, um über Cadrachs Worte nachzusinnen. Eines aber ist klar: Josua und die anderen suchen nach Hellnagel. Dorn besitzen sie bereits. Sie haben vor, die Schwerter hierherzubringen, aber sie wissen nichts von dem, was dieser Mönch uns über Pryrates erzählt hat. Hätten wir darum keinen anderen Grund zum Überleben und Fliehen, so haben wir nun einen von größter Wichtigkeit.« Er hob die geballte Faust. »Doch was vor der Tür steht, ist das Erste, das uns hindern wird, Josua mitzuteilen, was wir erfahren haben. Wie können wir trotzdem entkommen?«
»Oder haben wir dadurch, dass wir Bruder Cadrachs ausführlicherGeschichte seines Verrates lauschten, schon die Gelegenheit verpasst, die Höhle zu verlassen?«, fragte Miriamel giftig. »Vorhin war es nur eine Handvoll Nornen – vielleicht ist es jetzt schon ein Heer?« Binabik sah auf Cadrach, aber der Mönch hatte das Gesicht in den Händen vergraben.
»Wir müssen es versuchen. Wenn nur einer von uns überlebt, um Bericht zu erstatten, wird es dennoch ein Sieg sein.«
»Und selbst wenn alles verloren ist«, fiel Miriamel ein, »gibt es vielleicht ein paar Nornen, die das nicht mehr erleben werden. Ich wäre selbst mit dieser Art Sieg zufrieden.« Sie begriff, dass sie es tatsächlich so meinte – und mit dieser Erkenntnis wurde etwas in ihrer Seele kalt und leblos.
27
Ein Hammer aus Schmerz
rinz Jiriki. Endlich begegnen wir einander.« Josua verneigte sich und streckte die Linke aus; die Handschelle, die er zur Erinnerung an seine Gefangenschaft trug, lag wie ein Schatten auf seinem Handgelenk. Der Sitha erwiderte den Gruß mit einer seltsam gelenkigen Verbeugung, ergriff Josuas Hand und drückte sie. Isgrimnur betrachtete staunend das ungewöhnliche Bild.
»Prinz Josua.« Die soeben aufgegangene Sonne färbte Jirikis weißes Haar und den Schnee mattgolden. »Der junge Seoman hat mir viel von Euch erzählt. Ist er hier?«
Josuas Miene verdüsterte sich. »Leider nein. Es gibt vieles, über das wir sprechen sollten – wir haben Euch viel zu erzählen und hoffen, dass auch Ihr uns vieles sagen könnt.« Er sah zu den ragenden Mauern des Hochhorsts auf, die im Morgenlicht trügerisch einladend aussahen. »Ich bin nicht sicher, wer von uns beiden diesen Ort als seine Heimat ansehen darf.«
Der Sitha lächelte kalt. »Die unsere ist es schon lange nicht mehr, Prinz Josua.«
»Und ich bin nicht sicher, ob es die meine ist. Doch kommt, es ist unklug, länger hier im Schnee zu stehen. Wollt Ihr unser Frühstück mit uns teilen?«
Jiriki schüttelte den Kopf. »Seid bedankt für eure Höflichkeit, aber heute noch nicht.« Er sah sich nach der wimmelnden Schar der Sithi um, die sich über den Hang verteilt hatten und bereits ihr Lager errichteten; schon blühten die ersten bunten Zelte wie Blumen im Schnee. »Ich glaube, meine Mutter Likimeya spricht jetzt mit meiner Schwester. Auch ich würde gern einige Zeit mit Aditu verbringen. Wenn Ihr und Eure Vertrauten so liebenswürdig wärt, um die Zeit,wenn die Sonne über der Baumgrenze steht, in das Zelt meiner Mutter zu kommen, können wir in aller Ruhe miteinander reden. Es gibt, wie Ihr sagt, viel zu berichten.«
Wieder grüßte der Sitha anmutig, verneigte sich nochmals und ging über den Schnee
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