Der Engelsturm
auf Binabik, »… Schriftrollenträger der letzten Tage im Schilde führen. Er ist zufrieden abzuwarten.«
»Aber wie ist das möglich? Wie kann Pryrates die einzige Macht nicht fürchten, die seinen Gebieter vernichten kann?«
Miriamel konnte es nicht fassen. »Was soll das heißen, Binabik?«
Der Troll war völlig bestürzt. Er hielt die bebenden Finger in die Höhe und bat um eine Atempause zum Nachdenken.
»Vieles muss überlegt werden. Vielleicht hat Pryrates einen Plan mit einigem Verrat gegen den Sturmkönig? Vielleicht hofft er auch, durch die Macht der Schwerter Ineluki zu zügeln?« Er sah Cadrach an. »Er hat gesagt, ›die Schwerter werden kommen‹? Mit diesen Worten?«
Cadrach nickte. »Er weiß es. Er will, dass Hellnagel und die beiden anderen in den Hochhorst kommen.«
»Aber keinen Sinn bemerke ich darin«, erwiderte Binabik bekümmert. »Warum dann nicht Priester Johans Klinge holen und verbergen, bis die Zeit, auf die er wartet, erschienen ist?«
Cadrach zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen? Pryrates ist seltsame Wege gegangen und hat vieles Verborgene erfahren.«
Während der Schock ein wenig nachließ, nahm Miriamels Wut auf den Mönch wieder zu, noch verstärkt durch ihre Angst. »Wie könnt Ihr dann so ungerührt hier herumsitzen? Wenn Ihr mich und alles, was mir lieb ist, nicht verraten habt, dann nicht, weil Ihr es nicht versucht hättet. Ich nehme an, er hat Euch dann doch freigelassen und weiter spionieren geschickt? Habt Ihr Euch deshalb bereiterklärt, mich damals in Naglimund zu begleiten? Ich hatte gedacht, Ihr handeltet nur aus Habgier und um mich auszunutzen«, beim Gedanken daran packte sie Verzweiflung, »aber in Wirklichkeit habt Ihr … habt Ihr für Pryrates gearbeitet!« Sie wandte sich ab, um Cadrach nicht länger sehen zu müssen.
»Nein, Herrin!« Zu ihrer größten Verwunderung klang er verletzt und gekränkt. »Nein, er hat mich nicht freigelassen. Und ich habe ihm auch nicht wieder gedient.«
»Wenn Ihr meint, dass ich das glaube«, versetzte Miriamel mit kaltem Hass, »dann müsst Ihr in der Tat wahnsinnig sein.«
»Geht Eure Geschichte noch weiter?« Der vorsichtige Respekt, den Binabik dem Mönch zunächst entgegengebracht hatte, war zu säuerlicher Nüchternheit geronnen. »Denn wir sind noch immer hier gefangen, noch immer in höchst schrecklicher Gefahr – auch wenn wir, der Gedanke ist in meinem Kopfe, nicht viel anderes tun können, als zu warten, bis die Nornen beweisen, dass sie fähig sind, die Tür der Unterirdischen zu sprengen.«
»Nur noch ein kleines Stück. Nein, Miriamel, Pryrates ließ mich nicht frei. Wie ich Euch bereits sagte: Er hatte bewiesen, dass ich wertlos für ihn war. So viel von der Wahrheit erzählte ich Euch schon damals im Landungsboot der Eadne-Wolke – ich lohnte nicht einmal mehr weitere Foltern. Jemand versetzte mir einen Keulenhieb, dann wurde ich weggeworfen wie Abfall hinter dem Haus reicher Leute. Allerdings ließ man mich nicht, wie ich Euch früher gesagt habe, im Kynswald für tot liegen. Vielmehr wurde ich in den Katakomben unter dem Hjeldinturm in eine Grube geworfen … und dort wachte ich wieder auf. Im Dunkeln.«
Er hielt inne, als wäre die Erinnerung daran noch qualvoller als die ungeheuerlichen Dinge, die er bisher erzählt hatte.
Miriamel schwieg. Sie war wütend und fühlte sich zugleich leer. Wenn Cadrach die Wahrheit sagte, gab es vielleicht wirklich keine Hoffnung mehr. Wenn Pryrates so mächtig war und sogar über einen Schlachtplan verfügte, mittels dessen er dem Sturmkönig seinen Willen aufzwingen konnte, dann würde der rote Priester auch dann, wenn es Miriamel wider Erwarten gelang, ihren Vater zu sehen und ihn zu überreden, dass er dem Krieg ein Ende setzte, Mittel und Wege finden, seinen eigenen Willen durchzusetzen.
Keine Hoffnung. Ein sonderbarer Gedanke. So gering ihre Aussichten auch von Anfang an gewesen waren, Josua und seine Verbündeten hatten immer noch die schwache Hoffnung auf die Schwerter gehabt, an die sie sich klammern konnten. Wenn auch sie zerstörtwar … Miriamel wurde schwindlig. Ihr war zumute, als sei sie durch eine altvertraute Tür getreten, nur um gleich hinter der Schwelle plötzlich einen gähnenden Abgrund vorzufinden.
»Ich war am Leben, aber verletzt und verwirrt. Es war ein schrecklicher Ort – kein lebender Mensch sollte die schwarze Finsternis unter Pryrates’ Turm betreten müssen. Eine Flucht nach oben hätte bedeutet, durch den Turm zu gehen,
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