Der Engelsturm
vorbei an Pryrates selbst. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir das gelingen würde. Der einzige, winzige Rest Glück, der mir blieb, war, dass er mich wahrscheinlich für tot hielt. Darum schlug ich einen anderen Weg ein. Ich ging … nach unten.«
Er musste lange innehalten und sich den Schweiß vom aschfahlen Gesicht wischen. In der Höhle war es nicht besonders warm.
»Damals im Wran«, sagte er plötzlich zu Miriamel, »konnte ich es nicht über mich bringen, Euch in das Nest der Ghants zu begleiten. Der Grund dafür war, dass es zu viel Ähnlichkeit mit den Tunneln hatte … den Tunneln unter dem Hjeldinturm.«
»Ihr wart schon früher hier?« Wider Willen gefesselt, starrte sie ihn an. »Hier unter der Burg?«
»Ja, aber nicht dort, wo Ihr wart und wohin ich Euch folgte.« Wieder wischte er sich die Stirn. »Möge der Erlöser mich behüten, ich wünschte, meine Flucht hätte mich damals durch die Bereiche dieses unendlichen Labyrinths geführt, die Ihr gesehen habt! Der Weg, den ich nahm, war viel schlimmer.« Er suchte nach Worten und gab es auf. »Viel, viel schlimmer.«
»Schlimmer? Weshalb?«
»Nein.« Cadrach schüttelte den Kopf. »Das werde ich Euch nicht erzählen. Es gibt hier unten viele Ein- und Ausgänge, und sie sind nicht alle … natürlich. Ich will nicht mehr davon sprechen, und wenn Ihr auch nur einen Bruchteil dessen, was ich gesehen habe, einen einzigen Augenblick anschauen müsstet, würdet Ihr mir dankbar sein, dass ich schweige.« Er schauderte. »Aber es kam mir vor, als wären es Jahre, die ich unter der Erde dahinwanderte; und ich sah und hörte und fühlte Dinge … Dinge, die …« Er brach ab und schüttelte wieder den Kopf.
»Dann behaltet es für Euch. Ich glaube Euch ohnehin kein Wort.Wie war es möglich, dass Ihr unbemerkt entkommen konntet, wenn Ihr doch selbst gesagt habt, dass Pryrates Euch jederzeit finden und zu sich rufen konnte?«
»Ich verfügte noch immer – so wie heute – über ein paar geringe Reste meiner Kunst. So konnte ich mich mit einer Art … einer Art Nebel umhüllen. Diesen Nebel habe ich nie wieder abgelegt. Darum konnte Euch Geloë damals auch nicht wie Tiamak und die anderen zum Stein des Abschieds rufen. Sie konnte uns nicht finden.«
»Aber warum hat Euch dieser Nebel nicht schon vorher vor Pryrates verborgen, wenn er Euch zu sich befahl – als Ihr nicht fortlaufen konntet und für ihn spionieren und herumschleichen musstet wie der elendeste Verräter auf der Welt?« Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich erneut in einen Wortwechsel hineinziehen ließ, und noch mehr ärgerte sie sich, dass sie jemals Vertrauen und Mitgefühl an einen Menschen verschwendet hatte, der handeln konnte, wie der Mönch gehandelt hatte. Sie hatte ihn vor der Welt verteidigt und damit nur ihre eigene Dummheit unter Beweis gestellt. Er war ein Verräter durch und durch.
»Weil er mich für tot hält!« Cadrach schrie fast. »Wenn er wüsste, dass ich noch am Leben bin, würde er mich bald gefunden haben. Er würde meinen armseligen Schutznebel davonblasen wie ein starker Wind, und ich stünde nackt und hilflos da. Bei allen alten und neuen Göttern, Miriamel, was glaubt Ihr denn, warum ich so um jeden Preis von Aspitis’ Schiff fortwollte? Als ich nach und nach begriff, dass er zu Pryrates’ Dienern gehörte, war mein einziger Gedanke, dass er seinem Meister von mir erzählen könnte. Ädon bewahre uns, warum hätte ich Euch sonst angefleht, ihn zu töten, als wir ihm im Seenland wiederbegegneten?« Von neuem trocknete er sich den Schweiß vom Gesicht. »Ich kann mir nur denken, dass Pryrates den Namen Cadrach nicht wiedererkannte, obwohl ich mich schon früher so genannt hatte. Aber ich habe viele Namen benutzt – selbst dieser Dämon im roten Rock kann sie nicht alle kennen.«
»Also fandet Ihr Euren Weg in die Freiheit durch die Tunnel«, ermunterte ihn Binabik zum Weitererzählen. »Kikkasut! Dieser Ort gleicht in der Tat unserer Höhlenstadt auf dem Mintahoq: Das Wichtigste spielt sich zumeist im Innern des Felsens ab.«
»Freiheit?«, zischte Cadrach höhnisch. »Wie kann jemand frei sein, der mit dem leben muss, was ich weiß? Ja, ich fand am Ende einen Weg aus den allertiefsten Tiefen. Ich glaube, bis dahin hatte ich auch den letzten Rest meines Verstandes verloren. Ich floh nach Norden, fort von Pryrates und dem Hochhorst, obwohl ich damals keinerlei Vorstellung hatte, wohin ich eigentlich wollte. Zum Schluss verschlug es mich nach
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