Der Engelsturm
Händen zustechen. Ein Schauder überlief sie. Die Nornen. Die Weißfüchse. Nur noch wenige Augenblicke trennten sie von ihr …
Yis-fidri sagte etwas Leises, aber Eindringliches in der Unterirdischensprache. Von einer anderen Stelle der Höhle antwortete Yishadra im gleichen Ton. Die Geräusche hin und her laufender Unterirdischer verstummten. In der Kammer herrschte Grabesstille.
Der blaue Glanz formte sich zu einem angedeuteten Oval, bis das eine Ende der Linie auf das andere stieß. Kurzzeitig nahm die Hitze noch zu, dann erlosch das Glühen. Ein Scharren, dann fiel etwas schwer zu Boden. Ein Schwall kalter Luft strömte herein, aber falls jetzt wirklich die Tür gesprengt war, fiel trotzdem kein Licht ins Innere der Höhle.
Verflucht sollen sie sein! , dachte Miriamel verzweifelt. Sie sind zu schlau, um mit Fackeln in den Händen hereinzukommen. Sie packte ihrMesser fester, denn sie zitterte so heftig, dass sie Angst hatte, es könnte ihr aus der Hand fallen.
Plötzlich ertönten ein Donnerkrachen und ein schriller Schrei, der aus keiner menschlichen Kehle kam. Miriamels Herz tat einen Satz. Die großen Steine über der Tür, die die Unterirdischen gelockert hatten, prasselten herunter. Sie hörte das hohe, zornige Klagen der Nornen. Einem erneuten Krachen folgte ein schabendes, knirschendes Geräusch, dann das Rufen vieler Stimmen, keine davon in einer menschlichen Sprache. Miriamels Augen fingen an zu brennen. Sie rang nach Luft und fühlte, wie es tief in ihren Lungen stach.
»Auf!«, schrie Binabik. »Es ist Giftrauch!«
Miriamel sprang auf, wusste im Dunkeln nicht mehr, wo sie war, und wurde von einem Feuer verbrannt, das in ihren Eingeweiden loderte. Eine starke Hand packte sie und zog die Stolpernde durch die Finsternis. Die Höhle hallte wider von unverständlichen Rufen und Schreien und dem Poltern fallender Steine.
Die nächsten Augenblicke waren blinder Wahnsinn. Sie fühlte sich hinausgezerrt in die eisige Luft. Plötzlich konnte sie wieder atmen, aber immer noch nichts sehen. Die Hand, die sie festgehalten hatte, ließ sie los. Gleich darauf stolperte sie und fiel flach auf die Erde.
»Binabik!«, schrie sie und versuchte aufzustehen, aber ihr Fuß hatte sich irgendwo verfangen. »Wo bist du?«
Wieder wurde sie gepackt, diesmal aber hochgehoben und eilig durch die lärmende Dunkelheit getragen. Im Vorbeilaufen streifte sie ein Hieb. Einen Augenblick blieb ihr Träger stehen und ließ sie zu Boden gleiten; man hörte eine Reihe merkwürdiger Geräusche, darunter schmerzerfülltes Stöhnen und Keuchen, dann wurde sie wieder aufgenommen.
Endlich berührte sie von neuem den harten Stein. Es war stockfinster. »Binabik?«, rief sie.
Ein Funke blitzte auf, dann grelles Licht. Sie sah den Troll an der Höhlenwand stehen, ringsum Dunkelheit, in seiner Hand Flammen. Dann schleuderte er den Inhalt der Hand von sich fort. Ein Funkenregen sprühte. Überall züngelten kleine Flämmchen. Wie auf einenWandbehang gemalt, standen Binabik, mehrere Unterirdische und fast ein Dutzend fremder Schattengestalten erstarrt im Licht, verteilt in einer langgestreckten Höhle mit hoher Decke. Die Tür im Stein, die sie geschützt hatte, lag in Stücken hinter Miriamel auf der anderen Seite dieser Vorhöhle.
Sie hatte kaum eine Sekunde Zeit, die Wirkung des Pulvers zu bewundern, mit dem der Troll sonst seine Lagerfeuer in Brand setzte, denn schon rannte eine blasse Gestalt mit gezücktem langem Messer auf sie zu. Auch Miriamel hob die Klinge, doch ihre Knöchel wurden von irgendetwas festgehalten. Das Messer schoss auf ihr Gesicht zu, kam aber eine Handlänge vor ihren Augen plötzlich zum Stehen.
Der Unterirdische, der den Arm des Angreifers gepackt hatte, riss ihn hoch. Ein Knacken, als zerbreche etwas; dann wurde der Norne kopfüber durch die Höhle geschleudert.
»Dort entlang«, keuchte Yis-fidri und deutete auf ein dunkles Loch im vorderen Teil der Höhle. Im düsteren Flackerlicht wirkte er noch grotesker als der Feind, den er erledigt hatte: ein Arm hing schlaff herab, und der abgebrochene Schaft eines Pfeils zitterte in seiner Schulter. Neben ihm prallte ein weiterer Pfeil an die Höhlenwand. Der Unterirdische zuckte zusammen.
Miriamel griff nach unten und befreite endlich ihre Füße aus dem, was sie festgehalten hatte; es war ein Nornenbogen. Sein Besitzer lag nur ein paar Schritte weiter, gleich hinter dem Eingang der Höhle; aus seiner zerschmetterten Brust ragte ein dicker, scharfkantiger
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