Der Engelsturm
die Jiriki ihm gegeben hatte, sah er, wie Likimeya sich nach ihm umdrehte und ihn mit einem Blick maß, in dem er Abscheu zu lesen glaubte. Tiamak war verlegen und wütend auf sich selbst, weil er die scharfen Ohren der Sithi unterschätzt hatte.
Aditu glitt neben ihm nach unten, behende wie ein Reh. »Falls jemand für das Haus der Tanzenden Jahre sprechen muss, wird mein Onkel Khendraja’aro dort sein. Aber die anderen werden ihre Entscheidungen nach den Ereignissen treffen, und jeder wird tun, was getan werden muss.« Sie bückte sich unvermittelt und hob etwas vom Boden auf, um es genau zu betrachten; es war zu klein, als dass Tiamak es erkennen konnte. »Außerdem ist unsere Aufgabe hier unten mindestens ebenso wichtig, und darum sind die Fähigsten von uns mitgekommen.«
Tiamak und Aditu bildeten den Schluss der kleinen Schar. Vor ihnen gingen außer Jiriki und Likimeya noch Kira’athu, eine kleine, schweigsame Sitha, eine andere Frau namens Chiya, die Tiamak, ohne dass er erklären konnte, warum, noch viel fremdartiger vorkam als der Rest dieser so seltsamen Gruppe, sowie ein großer, schwarzhaariger Sitha namens Kuroyi. Alle bewegten sich mit der eigentümlichen Anmut, die Tiamak schon bei Aditu aufgefallen war, und schienen bis auf Aditu und ihren Bruder nicht mehr Notiz von dem Wranna zu nehmen als von einem Hund, der einem auf der Straße nachläuft.
»Ich habe Sand gefunden!«, rief Aditu den anderen zu. Sie hatte sehr darauf geachtet, den ganzen Morgen nur Westerling zu sprechen, selbst mit ihren Verwandten, wofür Tiamak sehr dankbar war.
»Sand?« Tiamak spähte auf das Unsichtbare, das sie zwischen Finger und Daumen hielt. »Und?«
»Wir sind vom Ufer jetzt weit entfernt«, erklärte sie. »Aber das hier sind runde Körnchen, durch die Bewegung von Stein im Wasser entstanden. Ich denke, wir sind noch auf Josuas Spur.«
Tiamak hatte eigentlich gedacht, die Sithi verfolgten den Prinzen mit Hilfe eines Zaubers, und wusste darum zunächst nicht recht, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte. »Könnt Ihr … wisst Ihr denn nicht einfach, wo der Prinz und Camaris sind?«
Aditus belustigtes Lächeln hatte etwas sehr Menschliches.
»Nein. Wir können manchmal Dinge tun, um jemanden oder etwas leichter zu entdecken – aber nicht hier.«
»Nicht hier? Warum?«
Das Lächeln verschwand. »Weil hier große Veränderungen vorgehen. Spürt Ihr es nicht? Für mich ist es so deutlich wie draußen der Lärm des Windes.«
Tiamak schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hoffe, Ihr werdet es mir sagen, wenn etwas Gefährliches auf uns zukommt. Das hier ist nicht meine Marsch, und ich weiß nicht, wo der gefährliche Sand liegt.«
»Der Ort, an den wir gehen, war einst unsere Heimat«, bemerkte Aditu ernst. »Aber sie ist es nicht mehr.«
»Kennt Ihr denn den Weg?« Tiamak sah auf den schrägen Tunnel, die unzähligen Spalten und kaum voneinander zu unterscheidenden Quergänge, tiefschwarz, soweit die Leuchtkugeln nicht hineinreichten. Der Gedanke, sich hier zu verirren, war grauenvoll.
»Meine Mutter kennt ihn, oder wenigstens wird sie ihn bald wiederfinden. Auch Chiya hat einst hier gewohnt.«
»Eure Mutter lebte hier?«
»In Asu’a. Tausend Jahre lebte sie hier.«
Tiamak lief es kalt über den Rücken.
Die Gruppe folgte keinem für Tiamak nachvollziehbaren Weg, aber er hatte sich längst damit abgefunden, dass er den Sithi vertrauen musste, auch wenn sie ihn in vielen Dingen ängstigten. Als er auf dem Stein des Abschieds Aditu kennengelernt hatte, war sie ihm sonderbar genug erschienen, aber sie war allein gewesen, eine Art Wundertier, so wie Tiamak selbst den Trockenländern vorgekommen sein musste. Wenn er die Sithi jetzt zusammen sah, sei es in großer Zahl, wie auf dem Hang im Osten des Hochhorsts, oder hier in einer kleinen Gruppe, die zwar viele Entscheidungen ohne vorherige Absprache traf, aber dennoch stets übereinzustimmen schien, empfand er zum ersten Mal das wirkliche Ausmaß ihrer Andersartigkeit. Sie hatten einst über ganz Osten Ard geherrscht. Der Geschichte nach waren sie freundliche Herren gewesen, aber Tiamak konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie wirklich freundlich gewesen waren oder ihren sterblichen Untertanen einfach keinerleiAufmerksamkeit entgegengebracht hatten. Falls es sich so verhielt, hatte man ihnen ihre Achtlosigkeit grausam heimgezahlt.
Kuroyi hielt an, die anderen mit ihm. Er sagte etwas in der fließenden Sithisprache.
»Dort ist jemand«, sagte Aditu leise
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