Der Engelsturm
so viel Mühe durch das Gestein bohren und dann seine Arbeit einfach wieder aufgeben?«
»Einige dieser Gänge hat mein Volk mit Hilfe der Tinukeda’ya erbaut, der Unterirdischen, wie die Sterblichen sie nennen. Und dieses Volk, das die Steine über alles liebt, grub zu seinem eigenen Vergnügen noch ein paar Gänge dazu, ohne groß darauf zu achten, wie man sie fertigstellen und dann instand halten sollte – so wie ein Kind sich ein Körbchen aus Grashalmen flicht und es dann wegwirft, wenn es Zeit zum Nachhauselaufen ist.«
Der Marschmann schüttelte den Kopf.
Aus Rücksicht auf ihre sterblichen Begleiter machten die Sithi endlich Rast in einer riesigen Grotte, deren Decke mit einem Flechtwerk aus schlanken Stalaktiten geschmückt war.
Tiamak fand den Eindruck im milden Licht der Kugeln ganz und gar zauberisch und freute sich für einen Augenblick, dass er mitgekommen war. Die Unterwelt war anscheinend nicht nur voller Grauen, sondern auch voller Wunder.
Während er dasaß und ein Stück Brot und eine unbekannte, aber schmackhafte Frucht verzehrte, die die Sithi mitgebracht hatten, überlegte er, wie weit sie wohl gekommen waren. Er hatte das Gefühl, dass sie den größten Teil eines Tages gelaufen waren, aber die gesamte Entfernung zwischen ihrem Ausgangspunkt an der Oberfläche und den Mauern des Hochhorsts hätte nicht ein Viertel dieser Zeitspanne in Anspruch genommen.
Selbst unter Berücksichtigung der vielfach gewundenen Tunnel hätten sie eigentlich irgendwo ankommen müssen, aber noch immer wanderten sie nur durch weitgehend leere Höhlen.
Es ist wie Buayegs Geisterhütte in dem alten Märchen, dachte er, nur halb im Scherz, klein von außen, innen groß.
Gerade wollte er Josua fragen, ob ihm diese merkwürdige Erscheinung auch aufgefallen sei, aber der Prinz starrte auf sein Brot, als sei er zu müde oder zu geistesabwesend zum Essen. Plötzlich bebte die Höhle – oder so schien es. Tiamak hatte das Gefühl, dass sich etwas bewegte, als glitten sie alle miteinander zur Seite, aber weder Josua noch die Sithi glichen die Bewegung aus. Es schien eher so, als sei alles, was sich in der Grotte befand, auf eine Seite gerutscht und die Lebewesen darin wären, ohne es zu merken, mitgerutscht. Es war ein furchterregender Ruck, und noch eine ganze Weile danach kam es Tiamak so vor, als wäre er an zwei Stellen gleichzeitig. Ein Schauder des Entsetzens lief ihm über den Rücken.
»Was ist das?«, keuchte er.
Das sichtliche Unbehagen der Sithi trug nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte.
»Es ist das, wovon ich schon sprach«, antwortete Aditu. »Weil wir uns Asu’as Herz nähern, wird es stärker.«
Likimeya erhob sich und blickte sich langsam nach allen Seiten um. Tiamak war überzeugt, dass sie dabei nicht nur ihre Augen gebrauchte. »Nach oben«, erklärte sie. »Ich denke, die Zeit wird knapp.«
Tiamak sprang hastig auf; der Ausdruck in Likimeyas strengen Zügen versetzte ihn in Angst. Er wünschte sich plötzlich, den Mund gehalten zu haben und bei seinen sterblichen Gefährten über der Erde geblieben zu sein. Aber zum Umkehren war es viel zu spät.
»Wohin gehen wir?«, schnaufte Miriamel.
Yis-hadra, die statt ihres verwundeten Gatten die Überlebenden anführte, drehte sich erstaunt um. »Gehen? Wir fliehen. Wir laufen fort.«
Miriamel blieb einen Augenblick stehen und beugte den Kopf nach unten, um wieder zu Atem zu kommen. Auf ihrer Flucht durch die Tunnel hatten die Nornen sie noch zweimal angegriffen, die verängstigtenUnterirdischen aber ohne Bogenschützen nicht überwältigen können. Trotzdem waren zwei weitere Steinpfleger im Kampf gefallen, und die bleichen Unsterblichen hatten keineswegs aufgegeben. Seit dem letzten Scharmützel hatte Miriamel sie bereits wieder entdeckt, als sie in einen Gang gekommen waren, der so lang und gerade verlief, dass ein Blick zurück möglich gewesen war. Dabei waren sie ihr wirklich als Geschöpfe der lichtlosen Tiefen erschienen – blass, lautlos und ohne Erbarmen. Die Nornen hatten es offenbar nicht eilig; es war, als wollten sie Miriamel und ihre Gefährten nur nicht aus den Augen verlieren, während sie darauf warteten, dass andere ihrer Art mit Bogen und Langspeeren eintrafen. Miriamel musste sich sehr zusammennehmen, um sich nicht einfach niedersinken zu lassen und aufzugeben.
Sie wusste, dass sie großes Glück gehabt hatten, der Höhle der Unterirdischen lebend entronnen zu sein. Wenn die Weißfüchse überhaupt mit Widerstand
Weitere Kostenlose Bücher