Der Engelsturm
da, mehr als genug für ihre Zwecke. Sie musste sie nur noch beherrschen und zu ihrem Eigentum machen. Die Stunde nahte. Utuk’ku brauchte sich nicht länger zu gedulden.
»Ich habe schon unter günstigsten Umständen keine guten Augen«, klagte Strangyeard, »und an einem so sonnenlosen Tag und bei diesem Schneewind kann ich schon gar nichts sehen. Bitte, Sangfugol, sagt mir, was vorgeht.«
»Bis jetzt sieht man noch gar nichts.« Die beiden hockten auf einer Anhöhe am Fuße des Swertclifs und schauten hinunter auf Erchester und den Hochhorst. Der Baum, unter dem sie kauerten, und das niedrige Steinmäuerchen, das sie vor sich aufgeschichtet hatten, boten nur wenig Schutz gegen den Wind. Der Harfner zitterte trotz seines Kapuzenmantels und der beiden Decken, in die er sich gewickelt hatte. »Unser Heer steht vor den Wällen, und die Herolde haben die Trompeten geblasen. Isgrimnur oder irgendein anderer scheint die Aufforderung zur Übergabe zu verlesen. Ich sehe immer noch nichts von den Soldaten des Königs … doch, jetzt bewegt sich etwas auf den Zinnen. Ich hatte mich schon gefragt, ob da drinnen überhaupt jemand ist.«
»Wer? Wer ist auf den Zinnen?«
»Heiliger Ädon, Strangyeard, ich kann es nicht sagen. Gestalten, mehr ist nicht zu erkennen.«
»Wir hätten näher herangehen sollen«, meinte der Priester verdrießlich. »Bei so einem Wetter ist dieser Hügel viel zu weit entfernt.«
Der Harfner warf ihm einen Seitenblick zu. »Ihr müsst von Sinnen sein. Ich bin ein Musikant, und Ihr seid ein Bibliothekar. Wir sind hier ohnehin viel zu nah – wir hätten in Nabban bleiben sollen. Aber nun sind wir einmal hier, und hier bleiben wir auch. Näher heran! Sonst noch etwas!« Er blies in seine hohlen Hände.
Im Wind hörte man schwache Hornrufe. »Und jetzt?«, fragte Strangyeard. »Was tun sie jetzt?«
»Sie haben die Aufforderung zur Kapitulation verlesen und vermutlich keine Antwort erhalten. Aber das ist Josuas Art, Elias die Möglichkeit einer ehrenvollen Übergabe anzubieten, obwohl wir alle wissen, dass sein Bruder gar nicht daran denkt.«
»Der Prinz ist … entschlossen, das Rechte zu tun«, entgegnete Strangyeard. »Meine Güte, ich hoffe nur, dass bei ihm alles gutgeht. Der Gedanke daran, dass er jetzt mit Camaris in diesen Höhlen umherirrt, macht mich ganz krank.«
»Da ist dieser Nabbanai!«, rief Sangfugol erregt. »Er hat wirklich eine große Ähnlichkeit mit Josua, wenigstens von hier aus.«
Er drehte sich plötzlich zu dem Priester um. »Habt Ihr tatsächlich vorgeschlagen, ich sollte den Prinzen darstellen?«
»Ihr seht ihm noch ähnlicher.«
Sangfugol starrte ihn unwillig, aber mit einer gewissen bitteren Erheiterung an. »Mutter Gottes, Strangyeard, tut mir nie wieder einen Gefallen!« Er drückte sich tiefer in seine Decken. »Stellt Euch doch vor, wie ich dort herumreite und mit einem Schwert fuchtele. Der Erlöser bewahre uns davor.«
»Aber wir müssen alle tun, was wir können.«
»Ja – und was ich kann, ist Harfe oder Laute spielen und singen. Und wenn wir siegen, werde ich das auch ganz bestimmt tun. Und wenn wir verlieren – nun, dann mache ich es vielleicht trotzdem, sofern ich am Leben bleibe, allerdings nicht hier. Aber was ich nicht kann ist reiten und fechten und die Leute glauben machen, ich sei Josua.«
Sie schwiegen eine Weile und horchten auf den Wind.
»Wenn wir verlieren, fürchte ich, dass es keinen Ort mehr geben wird, an den wir flüchten können, Sangfugol.«
»Vielleicht.« Der Harfner saß weiter stumm da. Auf einmal rief er: »Endlich!«
»Was ist? Geht es los?«
»Sie bringen den Rammbock – Gott schütze mich, das ist ja ein schreckliches Ding. Es hat einen dicken Eisenkopf, der aussieht wie ein richtiger Schafbock, mit gewundenen Hörnern und allem. Aber so riesig! Trotz der vielen Männer ist es ein Wunder, dass sie ihn überhaupt vorwärtsbewegen können.«
Er zog scharf den Atem ein. »Die Krieger des Königs schießen Pfeile von der Mauer. Da, jemand fällt. Mehr als einer. Aber der Rammbock kommt trotzdem immer näher.«
»Möge Gott sie beschützen«, sagte Strangyeard leise. »Es ist so kalt hier oben, Sangfugol.«
»Wie kann jemand in diesem Wind einen Pfeil abschießen, geschweige denn treffen? Ah! Einer ist von der Mauer gefallen. Wenigstens hat es diesmal einen von ihnen erwischt.« Die Stimme des Harfners hob sich erregt. »Man kann es nicht so genau erkennen, aber unsere Männer sind jetzt vor den Mauern. Jemand hat eine
Weitere Kostenlose Bücher