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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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unter dem Berg war alles still. Die Lichtlosen lagen in tiefem Schlummer. Die Gänge von Unter-Nakkiga waren so gut wie ausgestorben.
    Utuk’kus behandschuhte Finger, schmal und zerbrechlich wie Grillenbeine, öffneten und schlossen sich auf der Armlehne ihres Throns. Sie lehnte die uralten Knochen an den Felsen und ließ ihre Gedanken durch die Atmende Harfe wandern, folgte deren Drehungen und Windungen, bis Sturmspitze unter ihr versank und sie zum körperlosen Geist wurde, der durch die schwarzen Räume des Dazwischen schwebte. Der zornige Dunkle weilte nicht in der Harfe. Er hatte sich an den Ort begeben – wenn man es einen Ort nennen konnte –, von dem aus er gemeinsam mit ihr die letzte Stufe ihres jahrhundertealten Plans ins Werk setzen würde; aber auch jetzt fühlte sie den Druck seines Hasses und Neides, die im Netz der Stürme, die über das Land dort oben dahinbrausten, Gestalt angenommen hatten.
    In Nabban, wo einst die Emporkömmlinge, die sich Imperatoren nannten, regiert hatten, lag jetzt der Schnee ellenhoch in den Straßen. Im großen Hafen warfen riesige Wellen die vor Anker liegenden Schiffe aufeinander oder schleuderten sie ans Ufer, wo ihre zersplitterten Balken aufragten wie Riesenknochen. Die außer Rand und Band geratenen Kilpa griffen alles an, was sich aufs Wasser wagte, und hatten sogar angefangen, ihre trägen Überfälle auf die Küstenstädte auszudehnen. Und tief im Herzen der Sancellanischen Ädonitis hing schweigend die Claves-Glocke, im Eis erstarrt und so unbeweglich wie die von Furcht gelähmte Mutter Kirche der Sterblichen.
    Im Wran war es, auch wenn sein Inneres von den schlimmsten Folgen der Stürme geschützt blieb, bitterkalt geworden. Die Ghants, in ihrer Masse keineswegs entmutigt, obwohl unzählige Tiere dem harten Wetter erlegen waren, strömten auch weiterhin aus den Sümpfen und plagten die Dörfer in der Bucht von Firannos. Die wenigen Menschen in Kwanitupul, die sich trotz der Eiswinde ins Freie wagten, bewegten sich nur in Gruppen, mit Eisenwaffen und im Wind flackernden Fackeln gegen die Ghants bewehrt, die inzwischen an jedem dunklen Fleck zu lauern schienen. Kinder wurden in den Häusern gehalten und Türen und Fenster – selbst während der kurzen Stunden, in denen der Sturm abflaute – mit Läden versperrt.
    Sogar der Wald von Aldheorte schlief unter einer weißen Decke, aber wenn die uralten Bäume unter der Eiseskälte litten, so taten sie es schweigend. Im Herzen des Waldes lag leer und neblig vor Kälte Jao é-Tinukai’i.
    Alle Länder der Sterblichen zitterten unter der Hand von Sturmspitze. Die Unwetter sorgten dafür, dass Rimmersgard und die Frostmark Eiswüsten blieben; Hernystir ging es kaum besser. Bevor noch die Hernystiri die Häuser, aus denen Skali von Kaldskryke sie vertrieben hatte, wieder recht in Besitz nehmen konnten, waren sie gezwungen worden, in die Höhlen des Grianspog zurückzufliehen. Der Mut der Menschen, die die Sithi geliebt hatten, ein Mut, der kurze Zeit hell aufgelodert war wie ein stolzes Feuer, war zu einem matten Flackern herabgesunken.
    Der Sturm hing tief über Erkynland. Schwarze Wolken bogen und knickten die Bäume und ließen die Häuser im Schnee versinken; wie ein zorniges Raubtier grollte der Donner landauf und landab. Das boshafte Herz des Unwetters aber, so schien es, voll wirbelnden Hagels und zuckender Blitze, schlug über Erchester und dem Hochhorst.
    Utuk’ku nahm alle diese Dinge mit gelassener Genugtuung zur Kenntnis, hielt sich aber nicht damit auf, sich am Entsetzen und der Hoffnungslosigkeit der verhassten Sterblichen zu weiden. Vor ihr lag eine Aufgabe, etwas, auf das sie wartete, seit man den bleichen, kalten Leichnam ihres Sohns Drukhi vor sie hingelegt hatte.Utuk’ku war alt und verschlagen. Die Ironie der Tatsache, dass es ihr eigener Ur-Ur-Urenkel war, der ihr die ersehnte Rache bescherte, und dass er zugleich ein Abkömmling der Familie war, die ihr Glück zerstört hatte, war ihr nicht entgangen. Fast hätte sie darüber gelächelt.
    Ihre Gedanken eilten weiter, an den flüsterdünnen Fäden des Seins entlang und hinaus in die äußeren Gefilde, die sie von allen Lebenden allein betreten konnte. Als sie die Gegenwart dessen spürte, nach dem sie suchte, streckte sie die Hand danach aus und betete zu Mächten, die schon in Venyha Do’sae alt gewesen waren, dass sie ihr geben würden, was sie brauchte, um ihr letztes, langersehntes Ziel zu erreichen.
    Freude blitzte in ihr auf. Die Kraft war

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