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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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grimmig.
    Vermutlich ist keine Katze auf der ganzen Welt so dumm, dorthin zu gehen, wo ich hingehe.
    Er machte kehrt und stieg die düstere Treppe hinauf.
     
    Das Treppenhaus mündete schließlich in einem großen, fensterlosen Raum, den eine offene Falltür in der Decke nur ungenügend erhellte. Als Simon hinter dem hölzernen Wandschirm hervortrat, der die Treppe verdeckte, erkannte er, dass er sich in einem der Lagerräume unter dem Speisehaus befand. Auch hier war er schon einmal gewesen, an jenem schicksalhaften, furchtbaren Tag, als er Prinz Josua in Pryrates’ Verlies entdeckt hatte. Aber damals war diese Vorratskammer bis an die Decke mit Nahrungsmitteln aller Art und anderen Gütern vollgepackt gewesen. Jetzt waren die noch vorhandenen Fässer leer, viele lagen in Trümmern. Staubige Decken aus Spinnweben breiteten sich über die Ruinen, und über die paar winzigen Mehlreste am Boden liefen unzählige Mäusespuren. Anscheinend hatte schon seit langem niemand mehr den Raum betreten.
    Über ihm, das wusste er, lagen das Speisehaus und die zahlreichen anderen, dicht aneinandergedrängten Gebäude des Inneren Zwingers, allesamt überragt von der Elfenbeinspitze des Engelsturms.
    Als er daran dachte, fühlte er, wie Hellnagels Lied auf einmal deutlicher und eindringlicher wurde.
    »Geh dorthin …« Ein Wispern am äußersten Rand seiner Gedanken.
    Simon fand eine Leiter für die Falltür, stellte sie an und kletterte hinauf. Sie knarrte bedrohlich, hielt aber. Unter ihrem schmerzlichen Ächzen hörte er ein leises Murmeln, als folgten ihm die zischenden Stimmen aus den schwarzen Tunneln nach oben.
    Die einzige Beleuchtung in der Halle des Refektoriums war das matte, unruhige Licht, das durch die hohen Fenster fiel. Die noch übrigen Tische und Bänke lagen kreuz und quer im Raum, manche in Splittern. Die meisten fehlten ganz. Wahrscheinlich hatte man sie verfeuert. Alles war bedeckt von einer dicken Staubschicht, sogar die Dinge, die gewaltsam zerstört waren, so als sei diese Zerstörung schon vor hundert Jahren geschehen. Über einen der zerschlagenenTische huschten zwei Ratten, die Simon gar nicht beachteten.
    Das murmelnde Geräusch, das er schon die ganze Zeit bemerkt hatte, war hier lauter. Hauptsächlich schien es vom Wind zu kommen, der vor den Fenstern heulte, aber Simon glaubte auch Stimmen zu hören, die vor Schmerz, Zorn oder Angst schrien. Als er aufblickte, sah er durch die zerbrochenen Fensterläden kleine Schneeflocken hereinwirbeln. Er hatte das Gefühl, dass Hellnagel sich regte wie ein Raubtier, das Blut wittert.
    Noch einmal sah er sich im Speisesaal um, nahm, wenn auch zerstreut, die Schäden zur Kenntnis, die man seinem einstigen Heim zugefügt hatte, und näherte sich dann so leise wie möglich der vorderen Säulenhalle. An der Tür sah er, dass sie in zerbrochenen Angeln herunterhing und den Boden berührte, sodass er sie wohl kaum ohne großen Lärm aufbekommen würde. Dann aber hörte er den Tumult, der draußen herrschte, und begriff, dass er die Tür sogar mit dem Fuß eintreten könnte, ohne dass es jemandem auffallen würde. Das drohende Lied des Windes war stärker geworden, aber Lärm und Geschrei von draußen übertönten es noch. Es klang, als tobe unmittelbar vor der Tür des Speisehauses eine gewaltige Schlacht.
    Simon duckte sich und legte das Auge an den schmalen Lichtspalt, der zwischen der heruntergesackten Tür und dem Rahmen klaffte. Zuerst verstand er gar nicht, was er sah.
    Draußen fand tatsächlich eine Schlacht statt. Zumindest liefen große Gruppen Gepanzerter durch den Zwinger, und es herrschte ein fürchterliches Durcheinander. Das Chaos wurde noch verschlimmert durch den Schnee, der den aufgeweichten Boden bedeckte und in der Luft wehte wie Rauch, sodass man die Dinge nur undeutlich erkennen konnte. Rasch dahinziehende schwarze Wolken verdunkelten das kleine Stück Himmel hinter dem Spalt.
    Ein Blitz tauchte alles jäh in strahlende Mittagshelle, verpuffte dann und hinterließ stockfinstere Nacht. Das Bild, das sich bot, erinnerte an eine Schlacht vor den Pforten der Hölle, an ein Tollhaus voll schreiender Gesichter und verängstigter Pferde, eine Schlacht, die über den verschneiten Zwinger brauste wie eine zornige Flut.Jeder Versuch, dieses wütende Meer zu durchschwimmen, bedeutete den sicheren Tod.
    Auf der anderen Seite des Zwingers, hoffnungslos unerreichbar für Simon, erhob sich der Engelsturm. Gewitterwolken umkränzten seine Elfenbeinspitze. Wieder

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