Der Engelsturm
hatten. Trotz des heulenden Windes und des wilden Stimmengewirrs vor den Türen waren die vielen Räume des Wohnhauses verlassen gewesen und hatten kaum Anzeichen gezeigt,dass sich dort in letzter Zeit überhaupt jemand aufgehalten hatte. Während sie durch die kalten Zimmer und schmutzigen Korridore geschlichen waren, hatte Miriamels Furcht, entdeckt zu werden, abgenommen, ihr Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hatte dagegen stetig zugenommen. Auf das Schlimmste gefasst, hatte sie das Schlafgemach ihres Vaters betreten und es nicht allein leer, sondern auch in einem so stinkenden und verwahrlosten Zustand gefunden, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, wer dort gelebt hatte.
Jetzt waren sie auf einen kleinen, geschützten Balkon getreten, der von einem der Zimmer des zweiten Stocks abging. Sie duckten sich hinter das Steingeländer und spähten durch die Zierschlitze auf das Tollhaus unter ihnen. Es roch nach Gewitter und Blut.
»Ich fürchte, es ist so.« Binabik sprach mit lauter Stimme, denn bei diesem Kampflärm und Windgeheul brauchte er sich kaum Sorgen zu machen, dass jemand ihn hören könnte. »Dort unten findet eine Schlacht statt. Männer und Pferde liegen im Sterben. Aber etwas ist sonderbar daran. Ich wünschte, wir könnten über die Burgmauern hinausblicken.«
»Was sollen wir nur tun?« Miriamel sah sich fieberhaft nach allen Seiten um. »Josua und Camaris und die anderen müssen noch vor der Burg stehen. Irgendwie müssen wir uns zu ihnen durchschlagen.«
Das Tageslicht, durch die Sturmwolken so verdunkelt, dass es aussah, als stehe die ganze Burg unter Wasser, fing an zu schillern und eigenartig zu flackern. Dann schrie die Welt auf und wurde weiß. Ein Blitz zuckte herunter wie eine feurige Peitsche. Donner erschütterte die Luft; selbst der Balkon unter ihren Füßen schien zu beben. Der Blitz umkreiste den Engelsturm, blieb einen Augenblick dort stehen, während das Echo des Donners verhallte, und riss dann zuckend auseinander.
»Aber wie?«, schrie Binabik. »Ich kenne diese Burg nicht. Gibt es Fluchtwege?«
Miriamel fiel das Denken schwer. Das Toben des Windes und der Schlacht peinigte sie so, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten und laut geschrien hätte; von dem Gewirbel der Wolken wurde ihr schwindlig. Unvermittelt fiel ihr Cadrach ein, der stumm und abwesend wie ein Schlafwandler hinter ihnen hergetrottet war. Siedrehte sich um, überzeugt davon, der Mönch hätte ihre Verwirrung genutzt, um sich fortzuschleichen; aber er kauerte in der Türöffnung und sah mit hilfloser Miene zum stürmischen, rotdurchzuckten Himmel auf.
»Vielleicht kommen wir durch das Seetor hinaus«, sagte sie zu dem Troll. »Wenn Josuas Heer oberhalb von Erchester vor den Mauern steht, sind dort vielleicht nur wenige Krieger.«
Binabik riss die Augen auf. »Dort!« Er fuhr mit der Hand durch einen Schlitz des Geländers und deutete. »Ist das nicht – o Tochter der Berge!«
Miriamel kniff die Augen zusammen, um in dem Tohuwabohu unten etwas zu erkennen, und merkte zum ersten Mal, dass die ameisenhafte Betriebsamkeit auf dem Hof nicht nur aus Verteidigern bestand, die über die Zugbrücke zum Mittleren Zwinger rannten. Auf der Brücke schien vielmehr ein Kampf stattzufinden. Eine große Anzahl Bewaffneter trieb eine kleine Gruppe von Reitern und Fußsoldaten zurück über den Graben. Noch während sie hinsah, bäumte sich eines der Pferde auf und stürzte mit seinem Reiter in das dunkle Wasser. Waren denn Josuas Truppen bereits in die Burg eingedrungen und stürmten jetzt den Inneren Zwinger? Waren die paar Männer auf der Brücke die letzten Verteidiger ihres Vaters? Aber wer waren dann die vielen anderen Bewaffneten auf dem Hof, die keine Hand rührten, um den Zurückweichenden beizustehen? Wer waren sie?
Dann, als die kleine Schar auf der Brücke ein weiteres Stück zurückgedrängt wurde, sah sie, was Binabik gesehen hatte.
Einer der Reiter, der fast unglaublich hoch im Sattel stand, riss sein Schwert hoch. Selbst in der falschen Abenddämmerung erkannte sie, dass die Klinge so schwarz war wie Kohle.
»O Gott, behüte uns.« Ein kalte Hand krampfte sich um ihre Eingeweide. »Es ist Camaris.«
Binabik beugte sich vor und presste das Gesicht an die steinernen Streben. »Mich dünkt, ich sehe auch Prinz Josua – dort, im grauen Mantel, neben Camaris.« Er warf ihr einen angstvollen Blick zu. »Und es sind so wenige bei ihnen – ich kann nicht glauben, dass sie sich den Weg in die Mauern
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