Der Engelsturm
»Aber es gibt auch vieles, das nicht einmal Morgenes und seine Zeitgenossen erfuhren, vieles, von dem selbst Eahlstan Fiskerne nichts ahnte, der ein wahrer, wenn auch geheimer Freund der Sithi war. Die Unsterblichen haben ihr Wissen stets sehr gut verborgen.«
»Und wer kann es ihnen vorwerfen, wenn die Menschen ihnen allein mit Stein, Eisen und Feuer so viel Schaden zugefügt haben?« Wieder sah Josua den Marschmann an. »Ach Gott, der du barmherzig bist – wir verschwenden unseren Atem mit Reden! Ich sehe Euch an, dass Ihr Schmerzen habt, Tiamak. Lasst Euch eine Weile tragen.«
Tiamak, der verbissen weitergeklettert war, schüttelte den Kopf. »Camaris ist nicht langsamer geworden. Wir würden nur weiter zurückfallen, und wenn er die Treppe verlässt, könnten wir ihn verlieren und hätten diesmal keine Sithi, die uns weiterhelfen. Dann wäre er allein und würde vielleicht für immer hier umherirren.« Er brauchte ein paar Stufen, bis er genug Luft zum Weitersprechen hatte. »Notfalls müsst Ihr mich zurücklassen. Es ist wichtiger, dass Ihr Camaris folgt.«
Josua antwortete nicht, nickte dann aber traurig.
Das schreckliche Gefühl der Verschiebung verflog und mit ihm die tanzenden Lichter, die Tiamak einen Augenblick vorgegaukelt hatten, die große Treppe stünde in Flammen. Kopfschüttelnd versuchte er, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. Was konnte das sein? Die Luft war merkwürdig heiß, und die Haare an seinen Armen und im Nacken hatten sich gesträubt.
»Irgendetwas Entsetzliches geht vor!«, rief er. Noch immer stolperte er hinter Josua her und fragte sich, ob die ständig zunehmende Intensität der seltsamen Verwerfungen ein Zeichen dafür war, dassdie Nornenkönigin dabei war, über die Sithi zu siegen. Der Gedanke umkrallte sein Hirn wie mit Klauen. Vielleicht war sie ja aus dem Teich entkommen? Vielleicht folgte sie ihm und dem Prinzen die dunkle Treppe hinauf, mit ausdrucksloser Silbermaske und wehenden weißen Gewändern?
»Er ist fort!«, unterbrach Josuas erschrockene Stimme seine Phantasien. »Wie ist das möglich?«
»Was? Fort? Wohin?« Tiamak sah nach oben.
Im Schein der Fackel zeigte sich das Ende der Treppe, das von einer niedrigen Steindecke abgeschlossen wurde. Camaris war nirgends zu erblicken.
»Aber hier gibt es doch kein Versteck«, murmelte der Prinz.
»Ihr irrt Euch! Seht dort.« Tiamak deutete auf einen Spalt in der Decke, der so breit war, dass ein Mann hindurchpasste.
Schnell hob Josua den Wranna in das Loch und hielt ihn fest, während Tiamak nach einem Halt suchte. Der Marschmann sah, dass er mit dem Kopf fast über die Oberkante reichte; er zog sich hoch und aus dem Loch, immer im Kampf mit seinen erschöpften Muskeln, die ihn im Stich lassen wollten. Schließlich lag er zitternd auf dem Steinboden und rief durch den Spalt: »Kommt herauf! Es ist ein Lagerraum!«
Josua warf ihm die Fackel zu. Tiamak streckte ihm die Hand entgegen, und Josua kletterte mühsam durch die Spalte. Sie durchquerten hastig den Raum und achteten darauf, nicht über das Gerümpel zu stolpern, das überall herumlag. Auf der anderen Seite stand unter einer Falltür eine wacklige Leiter. Sie stiegen hinauf. Darüber befand sich ein weiterer Lagerraum, der hoch oben in der Wand ein kleines Fenster aufwies, durch das man ein Stückchen Himmel sah. Drohende schwarze Wolken brodelten, und ein kalter Wind wehte herein. Eine zweite Falltür führte zum nächsten Stockwerk.
Gerade setzte Tiamak das schmerzende Bein auf die unterste Sprosse, als man oben über der Falltür ein furchtbares Krachen hörte, als zersplittere etwas gewaltsam. Josua, der vorausgestiegen war, raste nach oben und verschwand.
Als auch Tiamak oben angelangt war, fand er sich in einer kleinen, düsteren Kammer. Von ihr hatte eine Tür in einen weiterenRaum geführt. Jetzt lagen ihre Trümmer dort verstreut. Dahinter erkannte Tiamak Fackellicht und sich bewegende Gestalten. Plötzlich hörte er Josua laut rufen.
»Ihr! Gott sende Eure schwarze Seele zur Hölle!«
Tiamak wollte zu ihm laufen, blieb aber wieder stehen. Blinzelnd versuchte er, sich in dem großen, kreisrunden Raum zurechtzufinden, der sich vor ihm auftat. Zu seiner Linken glühten die Fenster über den großen Eingangstüren in blutrotem Licht, das mit dem düsteren Schein der Fackeln an den Wänden wetteiferte. Nur ein paar Ellen vor ihm stand Camaris zwischen den Trümmern der kleinen Seitentür, die ihm den Weg in die Halle versperrt hatte. Er rührte
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