Der Engelsturm
nicht mehr meine Tochter – aber ich werde nicht dulden, dass Ihr sie foltert.«
»Keine Schmerzen, Majestät«, versicherte Pryrates. »Sie und der Troll werden nur … Zuschauer sein.«
»Nun gut.« Endlich sah der König Miriamel in die Augen. Er spähte so mühsam nach ihr, als sei sie eine ganze Meile entfernt. »Wenn du nur auf mich gehört hättest«, sagte er kalt. »Wenn du nur gehorsam gewesen wärst …«
Pryrates legte ihm die Hand auf die Schulter. »Alles hat zum Besten gedient.«
Zu spät. Die Leere und Verzweiflung, gegen die Miriamel so lange angekämpft hatte, brachen die Dämme und durchbrausten sie wie schwarzes Blut. Sie hatte ihren Vater verloren und war tot für ihn. Alle Wagnisse, alles Leid waren umsonst gewesen. Sie fühlte sich so entsetzlich unglücklich, dass ihr das Herz stocken wollte.
Vor dem Fenster spaltete ein gegabelter Blitz den Himmel. Der Donner ließ die Glocken summen.
»Aus … Liebe.« Sie zwang ihre Kiefer, sich gegen den lähmenden Zauber des Alchimisten zu wehren. Jedes matte Wort dröhnte ihr in den Ohren, als stünde sie am Grund eines tiefen Brunnens. Jetzt konnte sie es ihrem Vater sagen, aber es war zu spät. Zu spät. »Du … ich … ich habe alles … aus Liebe getan.«
»Schweig!«, zischte der König. Sein Gesicht war eine knochige Maske der Wut. »Liebe? Was bleibt von der Liebe übrig, wennWürmer die Knochen abgenagt haben? Ich kenne dieses Wort nicht!«
Er drehte sich langsam zu Camaris um. Der alte Ritter kniete noch an derselben Stelle am Boden. Jetzt aber, wie von der bloßen Aufmerksamkeit des Königs unwiderstehlich angezogen, kroch er ein paar Schritte näher. Dorn scharrte vor ihm her über die Steinfliesen.
Die Stimme des Königs klang merkwürdig sanft. »Ich wundere mich nicht, dass das schwarze Schwert Euch erwählt hat, Camaris. Man hat mich davon unterrichtet, dass Ihr in die Welt der Lebenden zurückgekehrt wärt. Ich wusste, wenn das stimmte, würde Dorn Euch finden. Nun können wir uns gemeinsam bemühen, das Reich Eures geliebten Johan zu schützen.«
Als Miriamel plötzlich eine Gestalt erkannte, die bisher von Camaris verdeckt gewesen war, weiteten sich ihre Augen vor Schreck. Josua lag dicht neben ihrem Vater mit gespreizten Gliedern schlaff am Boden. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber Hemd und Mantel troffen am Hals von Blut, und unter ihm hatte sich eine rote Lache gebildet. Tränen nahmen ihr die Sicht.
»Es ist Zeit, Majestät«, sagte Pryrates.
Der König bleckte Leid wie eine graue Zunge, bis es den alten Ritter fast berührte. Camaris, der sichtlich mit sich kämpfte, hob der Schattenklinge in der Hand des Königs langsam Dorn entgegen.
Binabik, der sich gegen dieselbe Kraft wehrte, die auch Miriamel fesselte, stieß einen erstickten Warnruf aus, aber Dorn richtete sich in den bebenden Händen des alten Mannes immer weiter auf.
»Vergib mir, o Gott!«, rief Camaris voller Trauer. »Es ist eine sündige Welt … und ich habe dich wiederum verraten.«
Die beiden Schwerter stießen mit einem leisen Klicken, das im ganzen Raum zu hören war, aneinander. Das Rauschen des Sturms wurde leiser, und für einen Augenblick war nur Camaris’ qualvolles Stöhnen zu vernehmen.
Dort, wo die beiden Klingen sich kreuzten, begann ein schwarzer Fleck zu pulsieren, als habe die Welt einen Riss bekommen, durch den die Leere, das uranfängliche Nichts, in die Gegenwart sickerte. Selbst im Bann des Alchimistenzaubers spürte Miriamel, wie dieLuft in dem hohen Raum auf einmal hart und spröde wurde. Die Kälte durchdrang alles. In den Fensterbögen und an den Wänden bildeten sich Eisblumen, die sich blitzartig ausbreiteten. Binnen Sekunden bedeckte eine dünne Schicht von Eiskristallen das Zimmer. Sie schimmerten in tausend fremdartigen Farben. An den großen Glocken wuchsen Eiszapfen, durchsichtige Reißzähne, die im Licht des roten Sterns funkelten.
Pryrates reckte triumphierend die Arme. Glitzernde Flocken hingen an seinem Gewand. »Es hat begonnen.«
Der düstere Glockenkranz an der Decke bewegte sich nicht, aber von neuem erscholl der markerschütternde Ruf einer anderen, größeren Glocke. Pudriges Eis stob auf, als der Turm erzitterte wie ein schlanker Baum im Sturm.
Leise fluchend zerrte Simon am Türgriff. Die untere Tür war verklemmt. Es würde nicht leicht sein, in den Raum unter der Kammer, in der der Boden fehlte, einzudringen. Und schon wieder kamen Schritte die Treppe herauf.
Der Schmerz in seinen Gelenken
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