Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
den Atem an und fragte sich, wer von seinen vielen Feinden wohl jetzt wieder auf den Turm wollte. Aber er wusste, dass er es nur allzu bald erfahren würde. Hellnagel zupfte an seinen Gedanken. Das Abwarten fiel ihm schwer.
    Als die Geräusche verhallt waren, wackelte Simon an seinem Stapel, bis er sicher war, dass das Bauwerk ihn tragen würde. Er hatte versucht, alle scharfen Kanten und abgebrochenen Beine nach unten zu richten, falls er abstürzte, aber er wusste, dass dann vermutlich er selbst und die spitzen Bruchstücke von Stühlen, Schemeln und schweren Tischen alle zusammen durch den Boden brechen und in den nächstunteren Raum purzeln würden. Falls das geschah, machte er sich keine großen Hoffnungen.
    So vorsichtig er konnte, kletterte er nach oben und legte sich flach auf die Tischplatte, um dann die Beine nachzuziehen. Die Flamme der Fackel zwischen den Zähnen versengte ihm die Haarspitzen. Er richtete sich auf und fühlte, wie das unsichere Gerüst unter ihm sanft schaukelte. Behutsam balancierend nahm er dieFackel in die Hand, hielt sie in die Höhe und suchte die widerstandsfähigste Stelle der über ihm liegenden Fußbodenkante.
    Gerade näherte er sich dem Rand seines schwankenden Stapels, als die Glocke ein drittes Mal läutete.
    Noch während ihr Donnerhall den ganzen Turm erfasste und schüttelte und der Holzstoß unter Simon zusammenbrach, ließ er die Fackel los und sprang. Ein Stück des oberen Bodens brach ab, aber der Rest hielt. Keuchend griff Simon mit der freien Hand nach einer anderen Stelle und versuchte sich hinaufzuziehen. Purpurne Feuerstöße jagten einander über die Wände, und alles wogte und verschwamm. Seine müden Arme zitterten. Er zog sich höher, klammerte sich mit der Hand an die Türschwelle und schob endlich ein Bein über den Rand. Das Echo der Glocke verhallte, obwohl er es noch in Zähnen und Schädelknochen spürte. Die Lichter flackerten und erloschen, bis auf ein mattes Glühen unter ihm. Er roch den Qualm der Fackel, die jetzt zwischen den Trümmern seines Möbelstapels lag.
    Ächzend vor Anstrengung zog er sich ganz nach oben und in die Sicherheit des schmalen Holzstreifens. Dort lag er und schnappte nach Luft. Dann sah er unter sich Flammen aufzüngeln.
    So schnell es die Vorsicht erlauben wollte, kroch er zur Seite, riss die Tür auf und fiel vornüber auf die Stufen. Sofort raffte er sich auf und schloss die Tür. Ein paar verwaiste Rauchfäden schwebten hervor und lösten sich auf. Simon wartete, bis seine Hände nicht mehr ganz so heftig zitterten.
    Dann zog er das Schwert aus dem Gürtel. Hellnagel gehörte wieder ihm. Er lebte noch, er war frei – es gab noch Hoffnung.
     
    Als er seinen Weg fortsetzte, fühlte er das Lied des Schwertes in sich anschwellen, ein Gesang der Freude, der nahen Erfüllung. Sein eigenes Herz schlug schneller, als die Klinge sang. Alles würde gut werden.
    Das Schwert lag warm in seiner Hand. Es schien ein Teil seines Arms und Körpers zu sein, ein neues Sinnesorgan, so wachsam und scharf wie die Nase eines Jagdhundes oder die Ohren einer Fledermaus.
    Hinauf. Es ist Zeit.
    Der Schmerz in Kopf und Gliedern verflog, wich dem stetig anwachsenden Triumph Hellnagels, das er fest in der Hand hielt.
    Es ist Zeit. Alles kommt in Ordnung. Endlich.
    Das Drängen des Schwertes wurde immer stärker. Simon fiel es schwer, an etwas anderes zu denken als daran, wie er einen Fuß vor den anderen setzen musste, um zur Turmspitze zu gelangen, dem Ort, an den es Hellnagel zog. In den Fenstern, an denen er vorbeikam, sah er geballte Wolken, die gelegentlich von zackigen Blitzen durchzuckt waren; aber das Toben des Sturms klang merkwürdig gedämpft. Weit lauter, zumindest in seinen Gedanken, ertönte das Lied des Schwertes.
    Es geht dem Ende entgegen, dachte er. Er konnte es fühlen; Hellnagel versprach es. Das Schwert würde aller Verwirrung und Unzufriedenheit, die ihn so lange geplagt hatten, ein Ende setzen; sobald es mit seinen Brüdern vereint war, würde alles anders werden. Aller Kummer würde von ihm abfallen.
    Es war jetzt niemand anderes mehr auf der Treppe. Niemand regte sich mehr als Simon, und er konnte fühlen, dass alle und alles auf ihn warteten. Der Engelsturm war der Nabel der Welt, ihr Dreh- und Angelpunkt, und er würde es sein, der das Gleichgewicht veränderte. Es war ein wildes, berauschendes Gefühl. Das Schwert zog ihn weiter, sang zu ihm, erfüllte ihn bei jedem Schritt nach oben mit unklaren, aber überwältigenden

Weitere Kostenlose Bücher