Der Engelsturm
war immer noch unbeschreiblich, aber er hastete trotzdem so schnell wie nur möglich nach oben zu der anderen Tür, trat ein und achtete dabei sorgsam darauf, nur auf den vordersten Rand des Fußbodens zu treten, der auch vorhin sein Gewicht ausgehalten hatte. Dabei musste er sich weit zur Seite schieben, damit die Tür schloss. Als die Schritte draußen vorbeigingen, schlich er vorsichtig über den Streifen Holz, um durch den Schlitz in der Oberseite der Tür zu spähen, aber als er ihn endlich erreicht hatte, konnte er nur noch einen kleinen, dunklen Schatten erkennen, der merkwürdig schwankend nach oben entschwand. Er wartete ein Dutzend Herzschläge, lauschte, verließ dann leise den Raum und nahm aus dem nächsten Wandhalter eine Fackel.
Zu seiner großen Erleichterung stellte er mit ihrer Hilfe fest, dass die untere Kammer noch ihren Fußboden hatte, der zwar auch an einigen Stellen durchgefault war, im Wesentlichen aber erhalten zu sein schien. Hellnagel lag glänzend auf einem Stapel ausgemusterterMöbel. Es gab Simon einen Stich, es dort so hingeworfen zu sehen wie ein kostbares Schmuckstück auf einem Dunghaufen – er musste es zurückholen. Hellnagel wollte hinauf zur Spitze. Selbst aus der Entfernung spürte er das Sehnen in der Klinge.
Ein dünner Faden aus ihrem Lied schlang sich um seine Gedanken, als er versuchte, den festesten Punkt des unteren Fußbodens zu finden. Er nahm das Ende der Fackel zwischen die Zähne und ließ die Beine über den Rand des Holzstreifens hinter der Tür gleiten. Soweit seine Arme reichten, ließ er sich hinunter, dann ließ er los. Mit einigem Herzflattern landete er. Das Holz knarrte laut und gab ein wenig nach, aber es hielt. Simon machte einen Schritt auf Hellnagel zu, aber sein Fuß brach ein wie im Morast. Hastig zog er ihn zurück und stellte fest, dass ein Stück Fußboden, etwas größer als seine Stiefelsohle, zerbröckelt und eingesunken war.
Auf Händen und Knien überquerte er langsam und vorsichtig die trügerischen Dielen. Beim Vortasten zog er sich eine Reihe von Splittern ein. Der Ruf des Windes war hier nur gedämpft zu vernehmen. Die Fackel brannte heiß an seiner Wange. Ihre flackernde Flamme warf seinen Schatten an die Wand, geduckt wie ein Tier.
Er streckte die Hand aus. Näher … noch näher … jetzt! Seine Finger schlossen sich um Hellnagels Griff, und sofort fühlte er, wie das Lied stärker wurde, ihn durchbebte, ihn willkommen hieß … und mehr. Die Sehnsucht der Klinge wurde seine Sehnsucht.
Hinauf, dachte er. In seinem Kopf stand das Wort wie ein leuchtender Schein. Es ist Zeit zum Hinaufgehen.
Aber das war leichter gesagt als getan. Er setzte sich auf die Schenkel, zuckte zusammen, als der Boden knarrte, und nahm die Fackel aus den Zähnen. Er hob sie hoch und blickte sich um. Der Raum war größer als der darüberliegende; die Hälfte der Decke, die nicht vom Holzboden des nächsten Stockwerks gebildet wurde, bestand aus einer hellen Steinplatte, die keine erkennbare Stütze aufwies. Die Wände waren kahl bis auf ein paar undeutliche Reste von Schnitzereien, überdeckt von Staub und Ruß. Es gab nichts, an dem man hätte hochklettern können, und auch im Sprung konnte er den schmalen Fußbodenstreifen an der oberen Tür nicht erreichen.
Er überlegte. Der Sog des Schwertes lag wie ein Schatten auf seinenGedanken, drängend wie ruhiger, aber stetiger Trommelschlag. Simon schob Hellnagel in den Gürtel, wobei es ihm fast schwerfiel, den Griff loszulassen, und steckte die Fackel wieder zwischen die Zähne. Dann kroch er zu der Tür hinüber, die er schon von der Treppe her zu öffnen versucht hatte, aber sie war von innen ebenso wenig zu bewegen; entweder das feuchte Wetter oder verzogene Balken hielten sie fest, so heftig er auch zog. Seufzend kroch er wieder in die Mitte der Kammer.
Mit äußerster Vorsicht zog er zerbrochene Möbelstücke heran und schichtete sie behutsam neben- und aufeinander, bis er vor der verquollenen Tür einen schulterhohen Stapel errichtet hatte. Gerade legte er die zerkratzte Platte eines nicht mehr gebrauchten Tischs oben auf den Stoß, als er wieder jemanden die Treppe heraufkommen hörte.
Er war sich nicht sicher, aber diesmal schienen die Schritte von mehreren Personen zu stammen. Simon hielt inne, wobei er die Tischplatte mit der Hand fest umklammerte, und horchte, bis die Schritte sich an seiner und dann, nach ein paar zehrenden Augenblicken, auch an der oberen Tür vorbeibewegt hatten. Er hielt
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