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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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klang. Sie hatte sich mit dem Tod abgefunden, Isgrimnur. Genau wie wir hatte sie alles versucht, um am Leben zu bleiben, aber es schien, als hätte sie es nur für uns getan.
    ›Es ist noch nicht vorbei‹, erwiderte Cadrach. Der Mönch sank am Rand des Abgrunds auf die Knie und breitete die Hände flach über das Nichts. Der ganze Turm fiel auseinander, und der Mann kniete sich hin und betete! Allerdings muss ich zugeben, dass mir im Augenblick auch nichts Besseres einfiel. Dabei verzog er das Gesicht wie jemand, der eine schwere Last hebt. Endlich sah er über die Schulter auf Miriamel. ›Jetzt geht hinüber‹, forderte er sie mit gepresster Stimme auf.
    ›Hinüber?‹ Sie starrte ihn an, und ihr Gesicht war zornig, sehr zornig. ›Soll das Euer letzter Betrug sein?‹
    ›Ihr habt einmal gesagt … Ihr würdet mir erst dann wieder trauen … wenn die Sterne am Mittag scheinen …‹, entgegnete der Mönch leise. Die Worte kamen mit großer Mühe. Ich konnte ihn kaum hören und verstand nicht, was er vorhatte oder wovon er sprach. ›Und Ihr habt sie gesehen‹, fuhr er fort. ›Sie waren da.‹
    Sie sah ihn eine schrecklich lange Zeit an, jedenfalls empfand ich es so, und der Turm erbebte. Dann ließ sie Simons Schultern sanft zu Boden gleiten und trat auf den Abgrund zu. Ich wollte sie zurückhalten,aber Binabik hinderte mich daran. Er hatte einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck. Sie übrigens auch. Und Cadrach.
    Miriamel schloss die Augen und schritt über die Kante. Ich war vollkommen sicher, dass sie abstürzen und den Tod finden würde, und vielleicht habe ich aufgeschrien, aber sie trat in die leere Luft, als ob die Steinstufen noch dort wären. Isgrimnur, unter ihren Füßen war nichts!«
    »Ich glaube Euch«, brummte der Herzog. »Ich habe gehört, Cadrach sei einst ein mächtiger Mann gewesen.«
    »Sie öffnete die Augen, ohne nach unten zu blicken, und drehte sich zu Binabik und mir um. Sie winkte uns, wir sollten Simon zu ihr bringen. Zum ersten Mal zeigte ihr Gesicht wieder Leben, aber keine Freude. Wir schafften Simon hinunter – er stöhnte und wachte langsam auf –, und sie griff nach oben und nahm seine Füße. Dann ging sie rückwärts über das Nichts. Ich konnte nicht glauben, was sie da tat – und was ich selbst gleich tun würde! Ich kniff die Augen zusammen, sodass ich nichts anderes als Miriamel sah, die sich vorsichtig nach unten bewegte, und folgte ihr. Neben mir ging Binabik, der Simons andere Schulter trug. Er warf einen einzigen Blick zwischen seine Füße und schaute dann rasch wieder nach oben. Anscheinend hat auch ein Bergtroll seine Grenzen, wenn es ums Klettern geht.
    Es dauerte sehr lange. Unter uns fühlten wir immer noch etwas wie Stufen. Wir konnten sie nicht sehen und wussten nicht, wie breit sie waren, darum kletterten wir sehr vorsichtig. Der Turm hatte angefangen, tiefe, stöhnende Laute von sich zu geben, als risse man ihn mitsamt seinen Wurzeln aus der Erde. Wenn ich tausend Jahre alt werde, Isgrimnur, werde ich doch nie vergessen, wie wir über das Nichts schritten und versuchten, nicht zu stolpern, während alles ringsum zerfiel und kippte! Er-der-stets-auf-Sand-tritt muss bei uns gewesen sein, das ist die Wahrheit.
    Endlich kamen wir an eine Stelle, an der wieder wirklicher Stein war. Als ich darauf trat und erst einmal tief ausatmete, blickte ich zurück. Cadrach war noch auf der anderen Seite. Sein Gesicht war aschgrau, und er zitterte am ganzen Körper. Er sah aus wie ein Ertrinkender, der zum letzten Mal aus dem Wasser taucht. Welche Kraft mag es ihn gekostet haben, das zu tun! Offenbar alle, die er besaß.
    Miriamel drehte sich um und rief ihm zu, er solle nachkommen, aber er hob nur die Hand und ließ sich auf die Stufen nieder. Er konnte kaum sprechen. ›Geht weiter‹, röchelte er. ›Ihr seid noch nicht in Sicherheit. Das war alles, das ich hatte.‹ Er lächelte – lächelte, Isgrimnur! – und sagte: ›Ich bin nicht der Mann, der ich einmal war.‹
    Die Prinzessin verfluchte und verwünschte ihn, aber es fielen immer mehr Steine herunter, und Binabik und ich schrien, dass wir nichts tun könnten, und wenn Cadrach nicht kommen könnte, dann müsste es wohl so sein. Miriamel sah auf Simon, dann wieder auf den Mönch. Schließlich sagte sie etwas, das ich nicht hören konnte, und griff nach Simons Füßen. Als wir um die nächste Windung bogen, schaute ich mich noch einmal um. Cadrach saß an der Abbruchkante, und dort, wo die Wand fehlte, schien

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