Der Engelsturm
Blick. Dann trat ein grässlicher Ausdruck in sein Gesicht. Ein Brüllen, das den Donner übertönte, entrang sich dem aufgerissenen Mund, und Elias stürzte rücklings ins Dunkel. Aus dem Brüllen wurde ein gellender, unfassbar lauter Schrei, der kein Ende nehmen wollte.
Einen flüchtigen Augenblick spürte Simon, wie etwas unbeschreiblich Kaltes dort, wo ihm das Drachenblut ins Herz gedrungen war, kratzte und hineinwollte, nachdem es seinen anderen Wirt verloren hatte. Der Hunger des Eindringlings war unermesslich und verzweifelt.
Nein. Du gehörst nicht hierher. Simons Gedanken wiederholten Binabiks Worte.
Das Krallenwesen wich zurück, lautlos kreischend.
Flammen leckten empor und breiteten sich aus, wo der König gestanden hatte. Unter dem Dach der Glockenstube bildete sich ein Rauchpilz. In seiner Mitte wogte entsetzliche, kalte Schwärze, die sich, noch während Simon sie erschüttert und voller Grauen anstarrte, in zuckende Schatten auflöste. Wieder kippte die Welt, und der Turm bebte. Hellnagel pochte in Simons Hand und löste sich in einer schwarzen Wolke auf. Gleich darauf hielt er nur noch Staub in den Fingern. Er hob die zitternde Hand an die Augen, um das lose Pulver zu betrachten, und hielt verblüfft inne.
Er konnte sich wieder bewegen!
Von der Decke fiel ein Steinbrocken krachend neben ihm zu Boden. Er spürte scharfe Splitter, die auf ihn einprasselten. Simon machte einen unsicheren Schritt zur Seite. Der Raum stand in Flammen,als würden die Steine selbst brennen. Eine rußgeschwärzte Glocke löste sich aus dem Kranz an der Decke und stürzte ab. Sie riss einen tiefen Krater in die Steinfliesen. Schattengestalten bewegten sich, hinter der Flammenwand nur verzerrt zu erkennen.
Eine Stimme rief seinen Namen, aber er stand mitten im Feuer und wusste nicht, in welche Richtung er fliehen sollte. Plötzlich wurde durch eine neue, scharfkantige Öffnung im Dach der brodelnde Himmel sichtbar. Weitere Steine fielen herunter. Etwas traf ihn am Kopf.
33
Versteckt vor den Sternen
iamak stand verlegen da und wartete. Der Herzog hörte den beiden Thrithingmännern geduldig zu, nickte und antwortete.
Die Männer machten kehrt und gingen durch den schmelzenden Schnee zu ihren Pferden. Der Herzog und der Wranna blieben allein am Feuer zurück.
Als Isgrimnur aufblickte und den Besucher erkannte, gab er sich Mühe, zu lächeln. »Tiamak, warum steht Ihr so herum? Bei Ädons Barmherzigkeit, Mann, setzt Euch. Wärmt Euch auf.« Er wollte ihm winken, aber seine Armschlinge ließ es nicht zu.
Tiamak hinkte zu ihm und setzte sich auf einen Baumstamm. Eine Weile hielt er wortlos die Hände über die Flammen und sagte dann: »Es tut mir unendlich leid um Isorn.«
Isgrimnur wandte die rotgeränderten Augen ab und starrte über die nebelverhangene Landzunge auf den Kynslagh hinaus. Es dauerte lange, bis er antwortete. »Ich weiß nicht, wie ich es meiner Gutrun sagen soll. Es wird ihr das Herz brechen.«
Das Schweigen dehnte sich aus. Tiamak wartete, unsicher, ob er noch etwas sagen sollte. Er kannte Isgrimnur weit besser als seinen Sohn, dem er nur einmal in Likimeyas Zelt begegnet war.
»Er ist nicht der Einzige, den es getroffen hat«, meinte Isgrimnur endlich und rieb sich die Nase. »Und wir müssen uns um die Lebenden kümmern.« Er nahm einen Stock, warf ihn ins Feuer und betrachtete ihn blinzelnd und mit angespannter Wut. An seinen Wimpern glitzerten Tränen. Wieder wuchs das Schweigen, schwoll fast furchterregend an, bevor Isgrimnur in die Worte ausbrach: »Ach, Tiamak, warum war ich es nicht? Er hatte sein Leben noch vor sich. Ich bin alt. Mein Leben ist vorbei.«
Der Wranna schüttelte den Kopf. Er wusste, dass es auf diese Frage keine Antwort gab. Niemand konnte die Beweggründe von Ihnen-die-wachen-und-gestalten nachvollziehen. Niemand.
Der Herzog fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und räusperte sich. »Genug. Die Zeit zum Trauern wird kommen.« Er drehte sich zu Tiamak um, und der Wranna sah zum ersten Mal, dass Isgrimnur die Wahrheit gesprochen hatte: Der Herzog war alt, ein Mann, der die Blüte seiner Jahre lange überschritten hatte. Nur seine große Lebenskraft hatte darüber hinweggetäuscht; jetzt sackte er zusammen, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Es erfüllte Tiamak mit Zorn, dass ein so guter Mann so leiden musste.
Aber wir haben alle gelitten, sagte er zu sich selbst. Jetzt ist es Zeit, wieder Kräfte zu sammeln, zu verstehen und zu entscheiden,
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