Der Engelsturm
ein wie kleine Kinder, und das schon seit der Turm fiel.«
Langsam und unter Schmerzen erhob sich der Herzog. »Dort kommt Strangyeard. Werdet Ihr mich begleiten, Tiamak? Es geht um wichtige Dinge, und ich möchte, dass Ihr dabei seid, wenn wir sie besprechen. Wir brauchen Eure Weisheit.«
Der Wranna nickte sanft. »Natürlich, Isgrimnur. Natürlich.«
Simon wanderte durch den Schutt des Inneren Zwingers. Der schmelzende Schnee hatte Flecken mit totem Gras und hier und da sogar Reste des Pflanzenwuchses zurückgelassen, die der Hexenwinter nicht zerstört hatte. Die unterschiedlichen Grün- und Brauntöne waren Balsam für seine Seele. Schwarz, eisweiß und blutrot hatte er für mehrere Lebzeiten genug gesehen.
Er wünschte sich eigentlich nur, dass auch alles andere sich so erneuerte wie die Natur. Es war erst zwei Tage her, dass der Turm gefallen und der Sturmkönig überwunden war, und er und seine Freunde hätten noch damit beschäftigt sein müssen, ihren Sieg zu bejubeln – stattdessen wanderte er hier umher und grübelte.
Die Nacht und den ersten Tag nach ihrem Entkommen hatte er im Bett verbracht und den tiefen Schlaf der völligen Erschöpfung geschlafen.Am zweiten Abend war Binabik gekommen, hatte erzählt, erklärt, ihn bedauert und schließlich still bei ihm gesessen, bis Simon wieder das Bewusstsein verlor. Den ganzen Morgen des zweiten Tages hatte er Besuch gehabt, Freunde und Bekannte, die nach ihm sehen und sich überzeugen wollten, dass er noch lebte. Ihr Anblick bewies Simon, dass die Welt noch einen gewissen Sinn hatte.
Nur Miriamel war nicht gekommen.
Als die von allen Wolken befreite Sonne über den Mittag hinauszugleiten begann, hatte er sich ein Herz gefasst und war zu ihr gegangen. Binabik hatte ihm am Abend zuvor versichert, dass sie lebte und nicht schwer verletzt war, sodass er nicht um ihre Gesundheit zu fürchten brauchte, aber die tröstlichen Worte des Trolls hatten nur seinen Kummer in anderer Beziehung vergrößert. Wenn es ihr gutging, warum war sie dann nicht gekommen oder hatte ihm eine Botschaft geschickt?
Er fand sie in ihrem Zelt, im Gespräch mit Aditu, die ihn früher am Morgen ihrerseits besucht hatte. Miriamel hatte ihn durchaus freundlich begrüßt, beide hatten einander wegen der zahlreichen Wunden bedauert, die sie davongetragen hatten, aber als er seine Trauer über den Tod ihres Onkels und Vaters zum Ausdruck brachte, war sie plötzlich kalt geworden und hatte sich abgewandt.
Simon hätte gern geglaubt, dass es nur die berechtigte Trauer einer jungen Frau war, die Schweres erlebt und ihre Familie verloren hatte – ganz zu schweigen von ihrer unglücklichen Rolle beim Tod ihres Vaters –, aber er konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch etwas anderes dahintersteckte. Sie hatte sich benommen, als sei etwas an Simon, das sie äußerst unangenehm berührte. Es machte ihn unglücklich, nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, diese Reserviertheit in ihren Augen zu lesen, aber er ärgerte sich auch, weil er nicht einsah, dass sie ihn behandelte, als sei es seine Grausamkeit ihr gegenüber gewesen, die ihnen die Reise nach Erkynland verdorben hätte, anstatt umgekehrt. Und obwohl er sich bemüht hatte, seinen Zorn zu verbergen, war die Stimmung immer eisiger geworden, und zum Schluss hatte er sich entschuldigt und war hinausgegangen in den Wind.
Hinaus in den Wind und den Berg hinauf war er gegangen undwanderte jetzt im Schneematsch durch den verlassenen Hochhorst.
Simon blieb stehen und betrachtete den großen, weitverstreuten Schutthaufen, der einmal der Engelsturm gewesen war. Kleine Gestalten huschten in den Trümmern herum, Leute aus Erchester, die nach Verwertbarem suchten, das man gegen Nahrung eintauschen oder als Andenken an ein schon jetzt sagenhaftes Ereignis aufheben konnte.
Seltsam, dachte Simon. Er war so tief unter die Erde gestiegen, wie man nur konnte, und ebenso hoch in die Lüfte, und dennoch hatte er sich kaum verändert. Möglicherweise war er ein wenig stärker als früher, aber vielleicht lag das nur an der Starrheit so vieler vernarbter Wunden; davon abgesehen, war er weitgehend derselbe. Einen Küchenjungen hatte Pryrates ihn genannt, und der Priester hatte recht gehabt. Trotz seiner Ritterwürde und aller seiner anderen Abenteuer würde er immer das Herz eines Küchenjungen haben.
Etwas fiel ihm ins Auge, und er beugte sich vor. Im Graben vor seinen Füßen lag eine grüne Hand, und die Finger ragten in
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