Der Engelsturm
das Licht des grauen Himmels auf ihn. Er hatte die Augen geschlossen. Vielleicht betete er, vielleicht wartete er auch nur.
Wieder eine Treppe später wurde Simon munter und wollte sich von uns losreißen. Wir setzten ihn ab, denn wir konnten ihn ja nicht gegen seinen Willen tragen – er ist ziemlich kräftig –, andererseits aber auch nicht warten, bis er wieder ganz bei sich war. Binabik zog ihn am Handgelenk hinter sich her und redete dabei pausenlos auf ihn ein, und so stolperte er mit.
Der Staub, der aus dem Schutt quoll, war so dicht, dass ich kaum atmen konnte, und außerdem brannte es. Das Feuer hatte eine der Innentüren zerstört und füllte das Treppenhaus mit Qualm. Aus den Fenstern konnten wir weitere Teile der oberen Turmgeschosse herunterstürzen sehen. Simon zeigte plötzlich auf eines der Fenster und schrie uns zu, wir sollten dort hinausklettern. Wir dachten, er wäre nicht klar im Kopf, aber schon hatte er Miriamel gepackt und zerrte sie darauf zu.
Aber er war nicht verwirrt, denn hinter dem Fenster war ein kleiner Steinvorbau – vielleicht gibt es einen Trockenländernamen dafür – und dahinter war eine Mauerkrone. Wir waren immer noch hoch über dem Boden, aber die Mauer war nicht allzu weit entfernt, kaum mehr, als ich lang bin. Der Turm fing allmählich an, ganz auseinanderzubrechen, sodass wir fast von dem Vorbau gepurzelt wären. Simon bückte sich und ergriff Binabik. Er sagte etwas zuihm – und warf ihn in die Luft. Ich war ganz verdutzt! Der Troll landete auf der Mauer, rutschte ein Stück im Schnee, verlor aber nicht den Halt. Als Nächste folgte Miriamel, die ohne Hilfe sprang. Binabik fing sie auf. Dann drängte Simon mich, es ihnen gleichzutun, und ich hielt den Atem an und sprang. Ich wäre gefallen, wenn die anderen mich nicht erwartet hätten, denn der Steinvorbau fing an zu kippen, und ich wäre um ein Haar zu kurz gesprungen.
Nun stand nur noch Simon da und versuchte, den Absprung zu finden. Miriamel schrie: ›Beeil dich, beeil dich!‹, und Binabik schrie auch. Schließlich machte er einen Satz und kam auch richtig auf, und im selben Moment brach der größte Teil des Vorbaus ab und zerschellte unten im Schnee. Wir fingen Simon zu dritt auf und zogen ihn in Sicherheit, sonst wäre er von der Mauer gekippt.
Wenige Augenblicke später stürzte der Turm endgültig ein. Es war ein Krachen, wie ich es niemals zuvor gehört hatte, lauter als jeder Donnerhall – aber Ihr wart ja selbst dort. Ihr wisst es. Steinbrocken, größer als Euer Zelt, sausten an uns vorbei. Zum Glück traf keiner die Mauer, auf der wir saßen. Fast der ganze Turm fiel in sich zusammen. Eine Wolke von Staub, Schnee und Rauch stieg auf, so hoch, wie der Turm gewesen war, und breitete sich über das ganze Gelände der Burg aus.«
Tiamak holte tief Luft. »Lange starrten wir auf das Schauspiel. Mir war, als hätte ich einen Gott sterben sehen. Später erfuhr ich, was Miriamel und die anderen in der Turmspitze erlebt hatten, und das muss noch seltsamer gewesen sein. Als wir uns so weit beruhigt hatten, dass wir weitergehen konnten, führte Simon uns durch den Thronsaal, vorbei an diesem wunderlichen Knochenthron, und hinaus zu Euch und den anderen. Ich dankte meinen Wrangottheiten, dass die Schlacht zu diesem Zeitpunkt schon fast vorbei war – ich hätte keine Hand mehr heben können, selbst wenn mir ein Norne das Messer an den Hals gesetzt hätte.«
Eine Weile saß er kopfschüttelnd da.
Isgrimnur räusperte sich. »All das lässt darauf schließen, dass nichts im Turm überlebt haben kann. Selbst wenn Josua oder Camaris noch gelebt hätten, wären sie von den Trümmern erschlagen worden.«
»Was unter dem Schutt liegt, wird nicht mehr wiederzuerkennen sein«, erklärte Tiamak. »Niemand der …« Er dachte an Isorn. »Oh, Isgrimnur, bitte verzeiht mir. Ich vergaß.«
Der Herzog sah ihn an. »Kurz vor dem Ende gingen die Türen der Vorhalle auf. Vermutlich löste sich Pryrates’ Teufelswerk, seine magische Wand, oder was immer es war, auf, als er starb. Ein paar von den Soldaten zogen so viele der Gefallenen heraus, wie noch möglich war, bevor der Turm einstürzte. Ich habe wenigstens den Leichnam meines Sohnes.« Er sah zu Boden, versuchte, sich zu fassen, und seufzte. »Danke, Tiamak. Seid mir nicht gram, dass ich Euch an alles erinnert habe.«
Der Wranna lachte unsicher. »Im Gegenteil … ich kann gar nicht aufhören, davon zu reden. Wir alle hier im Lager plappern unausgesetzt aufeinander
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