Der Engelsturm
einer erstarrten Geste der Freigabe aus dem Schlamm. Simon bückte sich und kratzte den feuchten Lehm ab. Ein Arm und dann ein Bronzegesicht kamen zum Vorschein.
Es war der Engel von der Turmspitze, ein gefallener Engel. Simon goss eine Handvoll Pfützenwasser über das Antlitz mit den hohen Wangenknochen und säuberte die Augen. Sie waren offen, zeigten aber kein Leben. Ein umgestürztes Standbild, nichts weiter. Er stand auf und wischte sich die Hände an den Hosen ab. Mochte, wer wollte, den Engel aus dem Schlamm holen und mit nach Hause nehmen. Dort konnte er in der Ecke stehen und den Hausbewohnern betörende Geschichten von den Tiefen und Höhen des menschlichen Lebens ins Ohr wispern.
Aber als er über den Angerhof davonstapfte, den zerstörten Turm im Rücken, hörte er wieder die Stimme des Engels – Leleths Stimme.
»Diese Wahrheiten sind zu stark«, hatte sie gesagt, »die Mythen undLügen, die sie umgeben, zu mächtig. Du musst sie sehen und selbst verstehen. Aber es war deine Geschichte.«
Und das, was sie ihm gezeigt hatte, war wirklich wichtig gewesen. Der Beweis dafür, zumindest ein Teil davon, lag hinter ihm, tausend Ellen weit verstreut. Aber da war noch mehr gewesen, etwas, das er nicht ganz verstanden hatte und über das er auch noch nicht hatte nachdenken können, weil er bisher weder Zeit noch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Jetzt aber nagte es wieder an ihm und wollte sich nicht abwimmeln lassen. Am stärksten war es im Thronsaal gewesen …
Seine Schritte hallten auf den Fliesen. Sonst war alles still. Hierher war noch niemand zum Plündern gekommen – das stumme Gespenst des Drachenbeinthrons genügte schon, dass sich den Leuten, selbst wenn sonst alles zum Besten stand, vor Angst die Haare sträubten, und zum Besten stand es im Augenblick ganz und gar nicht.
Das Nachmittagslicht, wärmer als beim letzten Mal, als er hier gewesen war, drang durch die Fenster und hauchte ein wenig Farbe auf die verstreuten, verblassten Banner. Nur die Malachitkönige waren auch jetzt noch in ihre eigenen, schwarzen Schatten gehüllt. Simon erinnerte sich an die schwarze Leere der Schwerter und zögerte mit klopfendem Herzen, aber er überwand den Anflug von Furcht und ging weiter. Diese Schwärze gab es nicht mehr. Dieser König war tot.
Am hellen Tag wirkte der große Thron weniger einschüchternd, als er ihn in Erinnerung hatte. Das große, zahnige Maul drohte noch immer, aber das Leben, das früher darin gelegen hatte, schien erstorben. In den Augenhöhlen waren nur noch Spinnweben. Selbst der gewaltige, mit Draht zusammengehaltene Brustkorb hatte sich an einigen Stellen gelockert, und es fehlten offensichtlich Knochen, obwohl in der Nähe keine herumlagen. Simon erinnerte sich dunkel, irgendwo vergilbte Gebeine gesehen zu haben, schob den Gedanken aber beiseite. Etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit.
Eahlstan Fiskerne. Er stand vor der steinernen Statue, betrachtete sie und suchte nach dem Schlüssel, bei dessen Anblick ihm alles wieder einfallen würde. Als er in seiner Traumstraßenvision das Gesicht des Märtyrerkönigs gesehen hatte, war ihm etwas daran bekanntvorgekommen. Als er dann auf seinem Weg in den Turm den Thronsaal durchquert hatte, dachte er, der Grund dafür wäre die Ähnlichkeit mit dem Standbild, das er so oft angeschaut hatte. Doch jetzt begriff er, dass ihm das Gesicht in anderem Zusammenhang vertraut war. Es hatte große Ähnlichkeit mit Zügen, die ihm noch viel öfter begegnet waren – in Jirikis Spiegel, im Wasser eines Teichs, auf der glänzenden Vorderseite eines Schildes. Eahlstan sah aus wie er selbst.
Er hob die Hand, sah auf den goldenen Ring und erinnerte sich. Das Volk des Fischerkönigs war in die Verbannung gegangen, und später war Johan der Priester gekommen, hatte behauptet, den Drachen getötet zu haben, und Anspruch auf den Thron von Erkynland erhoben. Morgenes hatte Simon den Ring anvertraut, der das Geheimnis verriet.
»Das ist deine Geschichte«, hatte der Engel gesagt. Wem anders würde man die Überlieferung von Eahlstans Haus anvertrauen als … Eahlstans Erben?
So stand er vor der Statue, und die plötzliche Gewissheit war wie ein eiskalter Guss. Vor Furcht und Staunen bekam er eine Gänsehaut.
Ein großer Teil des Nachmittags verging damit, dass Simon gedankenverloren im leeren Thronsaal auf und ab ging. Gerade starrte er von neuem auf Eahlstans Standbild, als er hinter sich an der Tür Geräusche hörte. Er drehte sich um. Herzog
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