Der Engelsturm
Südland, bettelte, hauste in der Wildnis und lebte von der Mildtätigkeit der Menschen. So gelangte er schließlich zu jener Herberge in Kwanitupul. Vermutlich fand er dort einen gewissen Frieden, auch wenn das Leben hart und sein Geist verwirrt war. Vierzig Jahre später entdeckte ihn dann Isgrimnur, und schon bald wurde sein Friede ihm wieder genommen. Er erwachte mit dem alten Grauen in seiner Seele, das in der langen Zeit nicht geringer geworden war, noch vermehrt durch das Bewusstsein, dass er versucht hatte, sich selbst das Leben zu nehmen.«
»Mutter der Barmherzigkeit!«, sagte Miriamel voller Mitgefühl. »Der Unglückliche.«
Simon wagte sich nicht auszumalen, wie unendlich der alte Ritter gelitten haben musste. »Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht irrt er wieder umher. Ich bete, dass er nicht noch einmal versucht hat, sich zu ertränken. Mein armer Vater! Ich möchte gern hoffen, dass die Dämonen, die ihn plagen, schwächer geworden sind, aber ich bezweifle es. Aber ich werde ihn suchen und ihm helfen, Frieden zu finden.« »Ist es das, was Ihr tun möchtet?«, fragte Simon. »Camaris zu suchen?«
Miriamel sah Josua scharf an. »Und was ist mit Vara?«
Josua nickte und lächelte. »Ja, ich werde meinen Vater suchen, aber erst, wenn meine Frau und unsere Kinder in Sicherheit sind. Es gibt viel zu tun, und ich werde so gut wie nichts davon in Erkynland ausführen können, wo man mich kennt. Nun, wie ihr seht, folge ich schon Isgrimnurs Beispiel und lasse mir aus Gründen der Diskretion einen Bart wachsen.« Er rieb sich das Kinn. »Ich reite heute Nacht noch nach Süden. Bald wird der alte Graf Streáwe einen mitternächtlichen Besucher begrüßen können. Er schuldet mir noch einen Gefallen … an den ich ihn erinnern werde. Wenn jemand es schafft, Vara und die Kinder aus dem Palast von Nabban herauszuschmuggeln, dann der listige Herr von Perdruin. Und das wird ihm mehr Vergnügen bereiten als alles Gold, das ich ihm je bieten könnte. Er liebt Geheimnisse.«
»Wie die Gemahlin des toten Prinzen und seine Erben verschwanden«,deklamierte Simon lächelnd. »Das ist der Stoff, aus dem die Geschichten und Lieder sind.«
»Bestimmt. Und ich werde sie irgendwann hören und lachen.«
Er beugte sich vor, drückte Simons Arm und umarmte dann Miriamel, die ihn lange nicht loslassen wollte. »Jetzt muss ich gehen. Vinyafod wartet, und es wird bald dämmern.«
Simon war das Gespräch, wie schon die ganze Nacht, wie ein Traum vorgekommen. Plötzlich widerstrebte es ihm, Josua fortzulassen. »Aber wenn Ihr Camaris gefunden und Vara bei Euch habt – was dann?«
Der Prinz hielt inne. »Das Südland, denke ich, kann außer Tiamak noch einen zweiten Träger der Schriftrolle brauchen – wenn der Bund mich aufnimmt. Und ich kann mir nichts Schöneres denken, als die Schlachten und Urteilssprüche hinter mir zu lassen und stattdessen lesen und nachdenken zu dürfen. Vielleicht kann ich mit Hilfe von Streáwe Pelippas Schüssel erwerben und der Wirt einer stillen Herberge in Kwanitupul werden. Einer Herberge, in der Freunde immer willkommen sind.«
»Du willst uns wirklich verlassen«, sagte Miriamel traurig.
»Wirklich. Man hat mir das Geschenk der Freiheit gemacht, ein Geschenk, auf das ich nie zu hoffen gewagt hätte. Es wäre sehr undankbar von mir, es zu verschmähen.« Er stand auf. »Ein seltsames Gefühl, heute meiner eigenen Bestattung auf dem Hochhorst beizuwohnen. Jedermann sollte das einmal gemacht haben – es stimmt einen sehr nachdenklich.« Er lächelte. »Gebt mir wenigstens einige Stunden Vorsprung, aber sagt dann Isgrimnur und denen, die vertrauenswürdig sind, dass ich lebe. Sie würden sich ohnehin Gedanken machen, wenn Vinyafod nicht mehr da ist. Vor allem erzählt es Isgrimnur bald, denn der Gedanke, dass mein alter Freund um mich trauert, verursacht mir großen Schmerz. Der Verlust seines Sohnes ist Leid genug für ihn. Ich hoffe, er wird mich verstehen.«
Er ging zum Zelteingang. »Und ihr beide – nun, ich denke, eure Abenteuer beginnen erst noch. Ich hoffe, die zukünftigen sind glücklicher als die vergangenen.« Er blies die Kerze aus, und im Zelt wurde es wieder dunkel. »So wie ich ein Narr wäre, nicht zu nehmen, was sich mir bietet, wärst du ein Narr, Simon, meine Nichtenicht zu heiraten, und du, Miriamel, eine Närrin, ihn nicht zu nehmen. Es gibt viel Arbeit für euch beide, vieles, das in Ordnung gebracht werden muss, aber ihr seid jung und stark und habt
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