Der Engelsturm
über das Gefühl seiner Berührung. »Gern geschehen, Simon.«
Endlich, fast widerwillig, ließ er sie los. »Ich denke, wir solltenjetzt versuchen zu schlafen, wenn wir um Mitternacht aufstehen wollen.« Miriamel stimmte zu.
Sie packten ihre wenigen Habseligkeiten ein und entrollten in freundschaftlichem, wenn auch etwas unbehaglichem Schweigen ihre Schlafdecken.
Mitten in der Nacht erwachte Miriamel von einer Hand, die sich auf ihren Mund legte. Sie wollte schreien, aber die Hand drückte nur fester zu.
»Nicht! Ich bin’s!« Die Hand verschwand.
»Simon?«, zischte Miriamel. »Was tust du da, du Idiot!«
»Still. Da draußen ist jemand.«
»Was?« Miriamel setzte sich auf und starrte vergeblich in die Finsternis. »Bist du sicher?«
»Ich war schon beim Einschlafen, als ich es hörte«, sagte er dicht an ihrem Ohr, »aber es war kein Traum. Als ich dann wach war, habe ich noch einmal gehorcht, und da kam es wieder.«
»Es ist ein Tier – ein Hirsch.«
Simon zeigte im Mondlicht die Zähne. »Ich kenne keine Tiere, die mit sich selbst sprechen, Ihr vielleicht?«
»Wie bitte?«
»Ruhig!«, flüsterte er. »Hört nur.«
Sie blieben schweigend sitzen. Miriamels Herz klopfte so laut, dass sie kaum etwas hören konnte. Sie warf einen Seitenblick auf das Feuer. Ein paar Kohlen glühten noch. Wenn wirklich jemand in der Nähe war, musste er sie gesehen haben. Sie überlegte, ob es wohl jetzt noch Sinn hatte, Erde auf die Glut zu werfen.
Dann vernahm sie es, ein knackendes Geräusch. Es schien etwa hundert Schritte entfernt zu sein. Ihre Haut prickelte. Simon sah sie bedeutungsvoll an. Wieder ertönte das Knacken, diesmal von etwas weiter weg.
»Was es auch sein mag«, wisperte sie, »es klingt, als entferne es sich.«
»Wir wollten in wenigen Stunden zur Straße aufbrechen. Ich glaube, wir sollten es nicht riskieren.«
Miriamel wollte widersprechen – schließlich war es ihre Reiseund ihr Plan –, fand aber, dass Simon recht hatte. Der Gedanke, sich im Mondlicht durch das Gestrüpp am Flussufer zu schleichen, verfolgt von etwas Unheimlichem … »Einverstanden. Wir warten, bis es hell ist.«
»Ich bleibe noch ein bisschen auf und halte Wache. Dann wecke ich Euch, und Ihr könnt mich schlafen lassen.« Simon setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin, den Rücken an einen Baumstumpf gelehnt, das Schwert quer über den Knien. »Nun schlaft aber auch.« Er wirkte angespannt, fast zornig.
Miriamel merkte, dass ihr Herz allmählich ruhiger schlug. »Du hast gesagt, es hätte mit sich selbst gesprochen?«
»Nun ja, vielleicht waren es ja mehr als einer. Aber für zwei war das Geräusch eigentlich nicht laut genug. Und ich hörte nur eine Stimme.«
»Was hat er gesagt?«
Sie konnte undeutlich sehen, wie Simon den Kopf schüttelte. »Das konnte ich nicht verstehen. Es war zu leise. Nur einfach … Worte.« Miriamel legte sich in ihren Decken zurecht. »Es kann auch irgendein Kätner gewesen sein. Es gibt ja Leute, die im Wald wohnen.«
»Möglich.« Simons Stimme war ausdruckslos. Miriamel wurde plötzlich klar, dass er sich fürchtete. »Es gibt viele Wesen in diesem Wald«, meinte er.
Sie bog den Kopf zurück, bis sie durch Lücken im Blätterdach ein paar Sterne sehen konnte. »Wenn du anfängst, schläfrig zu werden, Simon, spiel nicht den Helden. Weck mich.«
»In Ordnung. Aber ich glaube nicht, dass ich so schnell schläfrig werde.«
Ich auch nicht, dachte sie.
Die Vorstellung, dass jemand sie heimlich belauerte, hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Aber wenn sie verfolgt wurden, wenn Onkel Josua ihnen jemanden nachgeschickt hatte, warum entfernte er sich wieder? Vielleicht waren es auch im Wald hausende Geächtete, die sie im Schlaf abgeschlachtet hätten, wäre Simon nicht aufgewacht. Vielleicht war es aber doch nur ein Tier gewesen, und Simon hatte sich die Worte lediglich eingebildet …
Endlich sank Miriamel in unruhigen Schlaf, geplagt von Träumenvoller zweibeiniger Gestalten mit Geweihen, die durch die Schatten des Waldes glitten.
Sie brauchten einen großen Teil des Morgens, um aus dem Wald herauszukommen. Die ausgestreckten Äste und das fußangelreiche Unterholz schienen sie nicht fortlassen zu wollen, und der vom Waldboden aufsteigende Dunst war so trügerisch dicht, dass sie – davon war Miriamel überzeugt – ohne das Plätschern des Baches, an das sie sich hielten, genauso leicht in die entgegengesetzte Richtung hätten geraten können. Endlich, zerschunden,
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