Der Engelsturm
begann zu fließen.
»Bitte, Miri«, flüsterte Simon hilflos. »Hör auf zu weinen.« Er legte auch den anderen Arm um sie und hielt sie ganz fest.
Nach einer Weile versiegte die Tränenflut. Miriamel war so erschöpft, dass sie nur an Simon geschmiegt dasitzen konnte. Sie spürte seine Finger an ihrem Kinn, die dem Lauf ihrer Tränen folgten. Sie drängte sich an ihn, wühlte sich ein wie ein verängstigtes Tier, bis ihr Gesicht seinen Hals streifte und sein verborgenes Blut an ihrer Wange pochte.
»Ach, Simon«, stöhnte sie heiser. »Es tut mir so leid.«
»Miriamel«, begann er und verstummte. Seine Hand umschloss sacht ihr Kinn, und er hob ihr Gesicht, hinauf zu seinem Mund, seinem warmen Atem. Er schien etwas sagen zu wollen.
Sie spürte die Worte, die zwischen ihnen standen, bebend, unausgesprochen. Dann fühlte sie seine Lippen auf ihren, das sanfte Kratzen seines Bartes um ihren Mund.
Einen Augenblick war ihr, als schwebte sie irgendwo im Raum und in der Zeit, frei von allem, ohne festen Punkt. Sie suchte einen Platz, der ihr Zuflucht bot, Schutz vor dem Schmerz, der von allen Seiten auf sie einzudringen schien wie ein Unwetter. Simons Mund war weich und vorsichtig, aber die Hand an ihrem Gesicht zitterte. Auch Miriamel zitterte. Sie wünschte sich, in ihm zu versinken, in ihn einzutauchen wie in einen stillen Teich.
Unaufgefordert schob sich, wie ein Fetzen aus einen Traum, ein Bild vor ihre Augen: Graf Aspitis, dessen seidiges Goldhaar im Lampenlicht schimmerte. Er neigte sich über sie. Der Arm um ihre Schultern verwandelte sich plötzlich in eine Kralle, die sie erdrückte.
»Nein!« Sie riss sich los. »Nein, Simon. Ich kann nicht.«
Er gab sie sofort frei, schuldbewusst wie ein ertappter Dieb. »Ich wollte nicht …«
»Schon gut. Lass mich nur in Ruhe.« Sie hörte ihre eigene Stimme, flach und kalt, ohne jeden Zusammenhang mit dem Sturm von Gefühlen, der so heftig in ihr tobte. »Ich bin … es ist nur …« Auch ihr fehlten die Worte.
In der Stille hörten sie plötzlich ein Geräusch. Lange Sekunden verstrichen, bevor Miriamel begriff, dass es von außerhalb des Schuppens kam: das erregte Wiehern der Pferde. Gleich darauf knackte unmittelbar vor der Tür ein Zweig.
»Da draußen ist jemand!«, zischte sie. Die Verwirrung von eben war vorbei, eisige Furcht an ihre Stelle getreten.
Simon tastete nach seinem Schwert. Als er es gefunden hatte, stand er auf und schlich zur Tür. Miriamel folgte.
»Aufmachen?«, flüsterte er.
»Ja! Wir dürfen uns nicht hier drinnen erwischen lassen«, gab Miriamel scharf zurück. »Hier sitzen wir in der Falle.«
Simon zögerte kurz und stieß dann die Tür auf. Davor entstand eine hastige Bewegung. Jemand huschte davon, ein Schatten, der im dunstigen Mondlicht zur Straße hinunterrannte.
Simon trat den Mantel beiseite, der sich um seine Beine gewickelt hatte, und sprang aus der Tür, dem Fliehenden nach.
5
Flammentanz
orn erfüllte Simon, eine grelle, wilde Wut, die ihn antrieb wie Rückenwind. Die Gestalt vor ihm wurde langsamer, er holte auf. So musste Qantaqa empfinden, wenn sie etwas Kleines, Fliehendes hetzte.
Mich bespitzeln! Bespitzeln willst du mich?
Die dunkle Gestalt stolperte. Simon hob das Schwert, bereit, den Unhold an Ort und Stelle zu erschlagen. Nur noch wenige Schritte …
»Simon!« Etwas hielt ihn am Hemd fest, hemmte seinen Schritt. »Nein!«
Er senkte die Hand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und sein Schwert verfing sich im Gestrüpp und sprang ihm aus den Fingern. Er suchte am Boden, konnte es aber in der Dunkelheit nicht finden. Kurz zögerte er, aber der Schatten vor ihm hatte sich wieder aufgerappelt und entfernte sich bereits. Mit einem Fluch gab Simon das Schwert auf und rannte. Ein Dutzend lange Schritte, und er hatte den anderen eingeholt. Mit beiden Armen packte er seine Beute um die Mitte und warf sie zu Boden, sich selbst darüber.
»O süßer Usires!«, kreischte das Geschöpf unter ihm. »Verbrennt mich nicht! Verbrennt mich nicht!«
Simon ergriff die wild fuchtelnden Arme und hielt sie fest. »Was willst du hier?«, zischte er. »Warum verfolgst du uns?«
»Verbrennt mich nicht«, quäkte der andere mit zittriger Stimme und versuchte, das Gesicht abzuwenden. Offenbar außer sich vor Entsetzen strampelte er mit den dürren Gliedern. »Hab keinen verfolgt!«
Miriamel trat zu ihnen. Mit beiden Händen umklammerte sie Simons Schwert. »Wer ist das?«
Immer noch wütend, ohne recht zu wissen,
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