Der Engelsturm
richtige Augenblick, den Helden zu spielen.«
»Ich kann nicht einfach zulassen, dass sie diese Menschen mitnehmen, Miriamel.«
Innerlich betete er, dass jemand anderes in dem fast vollen Raum aufstehen, allgemeiner Widerstand einsetzen möchte. Miriamel hatte recht, sie konnten sich jetzt keine Dummheiten leisten. Aber die Gäste tuschelten nur und sahen zu.
Simon verfluchte sich für seine Torheit und Gott oder das Schicksal dafür, dass er oder es ihn in diese Lage gebracht hatte. Er entzog Miriamels Griff seinen Ärmel und trat wieder einen Schritt in den Schankraum hinein. Vorsichtig stellte er das Essenspaket und den Krug an die Wand und legte die Hand an den Griff des Schwertes, das Josua ihm verliehen hatte.
»Halt!«, sagte er mit lauter Stimme.
»Simon!«
Jetzt wandten sich ihm wirklich alle Köpfe zu. Der Letzte, der sich umdrehte, war der Anführer. Obwohl er nur wenig kleiner war als ein Durchschnittsmann, hatte sein großer Kopf mit dem gespaltenen Kinn etwas eigentümlich Zwergenhaftes. Die kleinen Augen musterten Simon rasch von oben bis unten. Diesmal lag keine Belustigung in ihnen.
»Was? Halt, sagst du? Halt womit?«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Leute mit Euch gehen möchten.« Simon sah den gefangenen Mann an, der matt im Griff eines der großen Feuertänzer zappelte. »Oder?«
Die Augen des anderen flackerten zwischen Simon und dem Anführer seiner Ergreifer hin und her. Endlich schüttelte er unglücklich den Kopf. Auf einmal wurde Simon klar, dass das, wovor der Mann sich fürchtete, etwas wirklich Entsetzliches sein musste, weil er es wagte, in der verzweifelten und wenig aussichtsreichen Hoffnung, dass Simon ihn retten könnte, seine Lage noch mehr zu verschlechtern.
»Seht Ihr?« Simon versuchte, nicht ganz erfolgreich, seine Stimme fest und ruhig klingen zu lassen. »Sie wollen Euch nicht folgen. Gebt sie frei.« Sein Herz hämmerte. Seine eigenen Worte kamen ihm sonderbar förmlich, ja absichtlich hochtrabend vor, als befände er sich in einer Tallistro-Geschichte oder einer anderen Chronik erfundenen Heldentums.
Der Kahlköpfige blickte sich um, als wollte er feststellen, wie viele andere Männer sich Simons Widerstand anschließen könnten. Niemand regte sich. Der ganze Schankraum schien geschlossen den Atem anzuhalten. Der Feuertänzer wandte sich wieder Simon zu, und ein Grinsen verzerrte seine dicken Lippen. »Diese Menschen haben dem Gebieter ihren Eid gebrochen. Das ist etwas, das dich nichts angeht.«
Simon merkte, wie eine ungeheure Wut in ihm aufstieg. Er hatte genug von aller Tyrannei, die er erlebt hatte, von den landesweiten Untaten des Königs oder Pryrates’ zielgerichteter Grausamkeit. Seine Hand schloss sich fester um den Schwertgriff.
»Ich mache es zu etwas, das mich angeht. Nehmt Eure Hände von ihnen und verlasst das Haus.«
Ohne weitere Einwande zischte der Anführer ein Wort. Sein Anhänger, der die Frau festhielt, ließ sie los. Sie stürzte gegen den Tisch und stieß eine Schale zu Boden. Der Feuertänzer sprang mit einem Satz auf Simon zu und schwang in weitem Bogen seinen Keulenstab. Ein paar Gäste schrien vor Angst oder Erregung auf. Simon zögerte zu lange. Als der Mann ihn erreichte, steckte sein Schwert noch halb in der Scheide.
Dummkopf! Mondkalb!
Er ließ sich fallen. Der Stock pfiff über seinen Kopf weg, schlug mehrere Mäntel von der Wand und verfing sich in einem davon. Simon nutzte die Gelegenheit und warf sich nach vorn gegen die Beine des Mannes. Beide taumelten und stürzten. Simons Schwert glitt aus der Scheide und fiel krachend in die Bodenbinsen. Simon prellte sich die Schulter – sein Angreifer war schwer und massiv gebaut –, und während er sich losriss und aufrappelte, gelang es dem Feuertänzer, sein Bein mit einem Keulenhieb zu treffen, der so kalt und stechend war wie eine Messerwunde. Simon duckte sich und rollte auf das verlorene Schwert zu. Sein Glück kannte keine Grenzen, als sich seine Finger um den Griff schlossen. Sein Gegner war aufgesprungen und kam auf ihn zu. Die Keule stieß vor wie eine schnappende Schlange. Aus dem Augenwinkel erkannte Simon, dass sich nun auch der zweite Mann näherte.
Immer schön eins nach dem andern. Dieser alberne Spruch schoss ihm durch den Kopf – Rachel hatte ihn immer zu Simon gesagt, wenn er zuerst seine Arbeit tun sollte, bevor er klettern oder spielen gehen durfte. Er stand geduckt da, das Schwert vor sich, und wehrte einen Hieb des ersten Angreifers ab. Es war
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